Im Irak, zwischen Euphrat und Tigris, soll einmal die Wiege der Menschheit, das Land des biblischen Paradieses gelegen sein, heißt es. Aber nach dem Golfkrieg 1991 und dem Embargo der UNO ist es für den Großteil der 22 Millionen Irakis zum Land des Elends geworden. Die Folgen der in ihrer Härte einmaligen Sanktionen gegen ein ganzes Volk, die auch bei UN-Diplomaten wie den UN-Beauftragten für den Irak, Hans Graf Sponeck, auf heftige Kritik gestoßen sind, haben die Diktatur Saddam Husseins nur gefestigt und den Reichtum seines verbrecherischen Clans vermehrt. Sein Sturz nach der Eroberung und Besetzung des Landes durch amerikanische und britische Truppen brachte dem irakischen Volk keine Besserung ihrer Situation.
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"Das nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein entstandene Vakuum in Verwaltung und allen öffentlichen Einrichtungen wird aufgefüllt von erstarkenden und gut organisierten verbrecherischen Strukturen. Beratungen mit hohen US-Offizieren und Beamten ergeben eine komplett divergierende Sicht der Probleme und deren Lösungen in unserem Land..." Treffender könnte wohl niemand die Situation beschreiben, als der Oberarzt des Universitäts-Spitals in Bagdad, der seine Lagebeurteilung sogar am schwarzen Brett im Foyer des Palestine-Hotels in Bagdad ausgehängt hat, dort, wo die meisten Journalisten wohnen.
Lokale Gemeinschaften rund um die Imams
Lokale Gemeinschaften, zumeist um den Dorfpfarrer, den Imam, schließen sich angesichts der trostlosen humanitären aber vor allen der Sicherheitslage eng zusammen, bewachen Lebensmittel- und Medikamentendepots, helfen sich gegenseitig aus, organisieren aber auch Demonstrationen gegen Übergriffe der US-Truppen.
Einige dokumentierte Fälle:
Eine Verwandte unserer irakischen Freunde fährt am 12. Juni mit ihrem Kleinwagen durch das Tunnel Al Shurta im Bezirk Hai Algamia in Bagdad, ein US Panzer zermalmt den PKW und tötet Frau Ing. Abd al Qadar und ein mitfahrendes Kind, ihr Onkel und ein zweites Kind überleben schwer verletzt. Iraker springen aus den Autos, laufen zur Unfallstelle, stellen den Panzerkommandanten zur Rede. "I am sorry" hören die Umstehenden noch, bevor er die Luke schließt und davonfährt...
Vor dem Hotel Palestine im Zentrum überfällt ein Bewaffneter ein irakischen Ehepaar: Fordert den Autoschlüssel, reißt der Frau die Halskette herunter und rennt davon. Beim Hotel sind US-Panzer postiert, aber kein US-Soldat greift ein.
Ein Neffe unserer Freunde gerät in eine Sperre: US-Soldaten winken sein Auto zur Seite, beginnen es zu durchsuchen. Als sie eine Brieftasche finden, fordern sie den Besitzer auf, sich zu entfernen. Nach beendetem Check darf er zurück zum Wagen und weiterfahren - die Brieftasche, in der ca. 1000 US- Dollar waren, ist leer.
Dr. Al D., ein früher in Wien praktizierender irakischer Arzt fährt täglich in sein am gegenüberliegenden Tigrisufer liegendes Spital. An der Brücke eine Sperre, ein US-Soldat und ein Dolmetsch (nach seiner Aussprache zu schließen, ein Kuweiti, wie sie häufig als "Hilfspolizisten" bei der US- Army angestellt waren) sperren die Durchfahrt. Der Arzt erklärt dem Dolmetsch, dass im Spital dringende Fälle auf ihn warten. Das Gespräch - zugegebenermaßen immer heftiger werdend - endet damit, dass der Kuweiti dem Arzt sein Gewehr dermaßen brutal über den Rücken prügelt, dass Dr. Al. D. wochenlang schmerzende Blutergüsse davonträgt.
Gerade dieser überlebensnotwendige Zusammenschluss, Zusammenhalt vieler moslemischer Gemeinden gegen Chaos und Übergriffe zu "local councils" um ihren Imam, scheint den US-Truppen und deren Geheimdienst extrem verdächtig und gefährlich.
Irakische Fachleute wurden entlassen
Mit unserem irakischen Freund - er arbeitet als Maschinenbauingenieur seit Jahren in Wien - besuchen wir seine Großfamilie in der Gemeinde Dabash im Nordwesten Bagdads. Ahmeds Schwester Leila hat an der Universität Bagdad Architektur studiert, sie hatte lange im Stadtplanungsbüro in Bagdad gearbeitet. Nun ist sie arbeitslos: Vor wenigen Wochen hat eine US-Firma den Wiederaufbau übernommen, die irakischen Fachleute sind entlassen worden. Nichte Sara ist PC-Ingenieurin, auch für sie gibt es keinen Job unter der neuen US-Verwaltung, alles scheint bereits früher für US-Firmen reserviert worden zu sein.
Wir fahren nach Norden in Richtung Tarmiya, die breite Straße nach Mosul ist gesäumt von verbrannten Autowracks, Schutt, Müllbergen, überall US-Checkpoints mit Panzern und maschinengewehrbestückten Sandsackbarrikaden; immer wieder begegnen uns US-Konvois, vorn und am Ende gepanzerte Humber-Geländewagen mit MG-Schützen in den Dachluken.
Hier sind im April beim Angriff der Amerikaner hunderte flüchtende Familien von den A-10-Kampfflugzeugen zusammengeschossen worden, trotz ihrer weißen Fahnen an den Autos und Häusern, berichten uns Überlebende. Am Straßenrand im Sand finden wir noch immer einzelne Gräber, gekennzeichnet mit großen Palmwedeln, andere Tote sind schon exhumiert. Aber die meisten der Getöteten hätten die US-Truppen weggeschafft, berichten die Zurückgekehrten. Man zeigt uns den LKW mit der arabischen Aufschrift "Leichenwagen" in einer Seitengasse, zwei zerschossene Ambulanzen in der Nähe der Rot-Kreuz-Station, durchlöchert von den hier eingesetzten Clusterbomben, zerstörte Einfamilienhäuser hinter gekappten und geknickten Palmen, schwarze Fahnen auf den Ruinen.
In Dabash erwartet uns im Haus des Gemeindepfarrers, des Imam, eine große Versammlung. Der zuständige Gemeindearzt ist da, kirchliche Mitarbeiter, Angehörige der Opfer, Kinder. Was hier beim Einmarsch der US-Army geschehen war, seien keine Einzelfälle, wird uns versichert, manches sei von arabischen TV-Sendern berichtet worden, vieles aber bis heute unbekannt, die Opfer namenlos. Nach Norden, Nordost, Südost seien viele Menschen aus der Stadt geflüchtet vor den US-Panzern, Apache-Hubschraubern und A-10, die vom Flughafen her, vom Western angegriffen hätten. Die genaue Zahl der Opfer würde niemals bekannt werden.
45 Tote durch amerikanischen Raketenangriff
Gemeindearzt Dr. Mustafa Abdullah Ali berichtet als Augenzeuge von den Angriffen: ein einziger Raketenangriff hätte 45 Tote gekostet, er hätte Opfer mit Schussverletzung in seiner Privatwohnung versorgt, viele hätten die Aufforderung der US-Soldaten "hands up" nicht verstanden und seien erschossen worden.
Aus dem Totenbuch der Pfarrgemeinde übersetzt uns Achmed die seitenlangen Eintragungen: Sein Nachbar Yass Kuthair verlor sechs Angehörige, sie waren zu acht im von A-10-Kampfbombern beschossenen PKW, Tochter und Vater haben schwer verletzt überlebt.
Im Hof des Imam lehnt ein Transparent: Die Gemeinde forderte bei Demonstrationen Gerechtigkeit, Schutz vor Soldaten und Plünderern, demokratische Grundrechte und eine eigene Verwaltung. Imam Dr. Hussein wurde inzwischen zweimal von der US-Army verhaftet: Sie kamen mit Apache-Hubschraubern und Panzern und holten ihn mit den Worten "Osama (also eine Anspielung auf bin Laden!) come on!" aus dem Haus. Nach dem Verhören - im ehemaligen Sicherheitsgefängnis der Geheimpolizei Saddams - entschuldigte man sich und brachte ihn wieder heim.
Die Stadt Falluja in der Nähe Bagdads ist ein Paradebeispiel, wie die US-Army selbst die Eskalation der Gewalt geschürt hatte: Ein Komitee der Stadt hatte Unterhändler zu den Amerikanern geschickt, die US-Army rückte kampflos Anfang April ein. Die Stadt wurde militärisch besetzt, mit Sperren, Stützpunkten, schwer bewaffneten Konvois, überall kreisenden Apaches, Scharfschützen auf den Dächern, brutalen Kontrollen - aber keine Zusammenarbeit mit der neu gebildeten lokalen Verwaltung.
In "legitimer Selbstverteidigung" hätten US-Marines auf Demonstranten geschossen, hieß es, es gab tote und verletzte Irakis. Die Folge waren Anschläge mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten, Zernierung der Stadt und Panzer vor jeder Moschee. Seither gibt es täglich Kämpfe in Falluja.
Enttäuschung über Besatzer
Die USA bezichtigen generell Anhänger Saddam Husseins, hinter den immer häufigeren Angriffen und gewalttätigen Demonstrationen zu stehen. Es ist aber die massive Enttäuschung der Irakis, nach der Befreiung von der Saddam-Diktatur nunmehr dem Diktat, den Übergriffen und Schikanen der Besatzer ausgeliefert zu sein.
Die zweite Reihe der Nomenklatura Saddam Husseins, also jene, die nicht auf den US- Spielkarten als verdächtig ausgewiesen sind, soll inzwischen die mafiosen Strukturen im Irak bestimmen. Reichtum und Verbindungen haben viele in die Nach-Saddam-Zeit herübergerettet, letztlich sind viele auch für den Aufbau einer Verwaltung für die USA unentbehrlich. Diese mächtigen Gruppen seien "schlimmer als die US-Mafia", so ein Restaurantbesitzer in Bagdad.
Die Angst der Soldaten
Für einen ehemaligen Pädagogen ist es interessant, mit den jungen Soldaten im Irak zu sprechen. Die US-Soldaten vor allen stammen zum Großteil aus Unterschichten, sind Südamerikaner - vor allen aus Mexiko - und Schwarzafrikaner. Für die meisten bedeutet der (freiwillige) Eintritt in die US-Army die einzige Chance eines sozialen Aufstiegs. Politisch- kritisches Denken ist weder vorhanden, noch gefragt.
Einem Ex-Major der Marines stellte ich einmal die Frage, ob denn der Drill bei der sog. "Elitetruppe" der Marines tatsächlich so sadistisch-unmenschlich sei wie im Film "Full Metal Jacket" von Oliver Stone. "Even worst", war die Antwort, also noch schlimmer. Letztendlich seien aber alle stolz, die Ausbildung durchgestanden zu haben und "harte" Angehörige der Marines zu sein.
Ähnlich ist es bei den im Südirak um Basra stehenden Briten. Die schottische "Black Watch" mit ihren roten Quasten am Barett kämpfte schon vor hundert Jahren unter Kitchener im Sudan gegen die Mahdisten. Wie bei den Marines oder den "Old Ironsides" der US-Army in Bagdad überspielt die renommierende Zugehörigkeit zu Eliteeinheiten Ängste und Unsicherheit gerade bei den achtzehn- neunzehnjährigen Soldaten. Die boulevardträchtige Vermarktung der Medien trägt dazu bei, im Sinn eines verlogenen "Korpsgeistes" Brutalität und Töten als schätzenswerte Eigenschaften dieser jungen Soldaten einzubringen. Sie sind aber auch die Opfer der fast täglichen Anschläge verbitterter Iraker - und danach die Opfer verlogenen militärischen Heldengedenkens.