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Unter der Glasur eines Märchens

Von Richard Swartz

Reflexionen

Asiatische Touristen, böhmisches Bier, deutscher Spargel und dunkle Hotelzimmer - Notizen von einer Reise durch Zentraleuropa.


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Wisse er vielleicht, ob Herr Deim in Freistadt noch lebe?

Das war meine Frage. Und ob, sagte er. Sonntags komme er oft hier zum Mittagessen vorbei.

Das fand ich sonderbar. Besaß Herr Deim doch selbst das schönste Schankzimmer im gesamten Mühlviertel. Aber dann fiel mir ein, dass er seinen Gasthof längst verkauft hatte, und wohl deshalb nicht in seinem alten Lokal speiste, weil er nicht schon bei der Rindsuppe daran erinnert werden wollte.

Der Wirt hatte sich zu mir gesetzt und erzählte von den Enten in Böhmen. Die seien groß. Höchstens eine halbe Ente bestellen! Ein Freund von ihm, ein Radfahrer, hatte nach einer anstrengenden Tagesetappe durch den Böhmerwald großen Hunger, und deshalb eine ganze Ente bestellt. Zwei Portionen mit jeweils einem halben Vogel auf dem Teller.

Windkraftwerke: Bäume aus einem Märchenwald, von Riesen bewohnt . . .
© Norbert Breuer/EyeEm

Der Freund war klein und drahtig, so wie alle wirklich guten Radfahrer, aber mit der böhmischen Ente hatte er sich übernommen. Bald wurde er abgehängt; die zweite Hälfte ging zurück in die Küche.

Der Giro d’Italia wird immer von denselben kleinen und drahtigen Typen gewonnen, sagte der Wirt.

Die Tour de France auch, sagte ich.

Stimmt, meinte der Wirt. Wenn die vom Rad steigen, reichen sie oft nicht einmal bis zum Sattel.

Brauhaus als Tempel

Im Eggenberger Brauhaus in Ceský Krumlov ist auch mein Hunger groß, aber die Enten sind noch größer. Auch für die Japaner. Oder sie sind Koreaner, vielleicht sogar Chinesen; in Europa verschwinden solche Unterschiede, wenigstens für uns, die hier zu Hause sind. Die kleine böhmische Stadt ist voll von asiatischen Touristen, die sich wie ein kollektives Wesen durch die engen Gassen schlängeln.

Das Brauhaus ist ein Tempel, den man dem Bier gewidmet hat. Die rostfreie Theke ist der Altar, in Bierschaum schwimmend. Statt dem Kelch herrscht hier der Krug. Die asiatischen Touristen werden an zwei langen Tischen platziert, und ihre Führerinnen, zwei fili-grane, trippelnde Mädchen, eilen danach sofort zur Theke.

Das kollektive Wesen vertreibt sich die Wartezeit damit, Fotos zu machen. Zu Individuen wird es erst durch Kamera und Mobiltelefon, erobert damit eine Art Einsamkeit, die wir Europäer auch ohne elektronische Geräte besitzen. Die beiden Mädchen inspizieren mit Augen und Nase alles, was aus der Küche getragen wird. Auf die Salatteller wird etwas aus einem kleinen Plastikbeutel gespritzt, den eines der beiden Mädchen aus seiner Handtasche zieht.

Europa? Alles schön und gut, aber nicht zu viel davon.

Was die asiatischen Touristen von Europa mitbekommen, lässt sich nicht so genau sagen. Sicher ist wohl aber, dass sie hier nur erleben, was sie schon im Voraus entschieden haben zu erleben. Die Ente bestellen sie nicht. Nur ein kleines Bier wird ab und zu bestellt, was hier fast einem Sakrileg gleichkommt.

Dafür wird umso fleißiger fotografiert, nicht um ein Stück Europa festzuhalten, sondern das japanische, koreanische oder chinesische Bild davon zu bestätigen: ein Museum, irgendetwas, was einst war, ohne sich heute bewusst zu sein, dass es nicht mehr ist.

Entmannte Tatkraft

Bautzen ist berühmt für seinen Senf und berüchtigt für ein heutzutage geschlossenes Gefängnis, mit dem man während der kommunistischen Zeit nicht nur Kinder erschrecken konnte.

Und wofür noch?

Für Napoleon vielleicht. Hier stand er in einem nicht ganz geraden Turm, um die Vorposten- oder Rückzugskämpfe rund um die große Völkerschlacht bei Leipzig zu verfolgen. Hat sich für ihn nicht gelohnt. Solche Kämpfe am Rande des eigentlichen Geschehens muss man sich als blutige Gezeiten vorstellen, ein leichtes Sinken und Heben, eine fast unsichtbare Bewegung in der Landschaft, wie der röchelnde Atem eines schwer verwundeten Riesentieres. Die Landschaft aber nimmt davon keine Notiz.

Leipzig war bis zum Ersten Weltkrieg die größte Schlacht der Geschichte. Die zweitgrößte wurde nicht weit von hier, 1866 bei Königgrätz, ausgefochten. Da war aber Napoleon längst tot.

In Bautzen lasse ich mein Haar schneiden. Die Friseurin sagt, es sei einfacher mit Herren als mit Frauen zu arbeiten. Herren sind fast immer mit dem Resultat zufrieden. Im Friseursalon sind sie viel demütiger und nicht so aggressiv wie sonst.

Wie schon Samson, sage ich.

Samson kennt sie nicht.

Ohne Haar sind wir Männer alle Schlappschwänze, sage ich.

Plötzlich klingelt ihr Mobiltelefon. Jetzt wird sorbisch gesprochen, ich verstehe nicht viel, und sobald sie fertig ist, bestätigt sie meine Vermutung: Ja, sorbisch (früher auch wendisch genannt, westslawische Sprache, hauptsächlich in der Lausitz beheimatet, Anm.) ist ihre Muttersprache. Es muss wohl stimmen, obwohl sie sogar ihre Muttersprache mit demselben Akzent spricht, den fast alle Deutschen verwenden, wenn sie eine fremde, slawische Sprache in den Mund nehmen.

Na, was sagen Sie jetzt, fragt sie und lässt mich in den Handspiegel schauen.

Wunderschön!

Und rings um mich ist der Fußboden mit entmannter Tatkraft bestreut.

Schweden in Volkach

Ohne darum zu bitten, kriege ich in Volkach Hilfe beim Einparken. Der ältere Herr bemüht sich sehr, ist sogar rasiert und nüchtern.

"Schwede? Kann nicht sein! Dafür sind Sie zu klein. Schweden sind groß, lange blonde Kerle."

Ich protestiere. Wir messen uns, Rücken an Rücken, auf dem Gehsteig. In der Tat ist er etwas größer, ohne wirklich groß zu sein.

"Vielleicht sind Sie Holländer?"

Der Herr wurde an diesem Tag in der Früh hinausgeschmissen. Seine Frau hält ihn für faul und untauglich; schade, dass sie ihn nicht beim Einparken meines Autos gesehen hat. Rausgeschmissen? Für immer? Das weiß er nicht, hat aber vor, um Punkt 6 Uhr wieder zu Hause zu sein, rechtzeitig zum Abendbrot.

"Man muss es wenigstens versuchen."

Dann dreht er sich plötzlich auf dem Gehsteig um und winkt zwei Damen zu, die auf einem Balkon direkt an der alten Stadtmauer sitzen: ihre Köpfe ragen kaum über das Geländer, aber beide winken fröhlich zurück.

Meine Frau, sagt er stolz. Eine richtige Hexe! Jetzt versucht sie einen guten Eindruck zu machen.

Er empfiehlt mir die Wallfahrtskirche Maria im Weingarten zu besichtigen, aber statt in die Kirche gehe ich in eine kleine Buchhandlung, um Postkarten zu kaufen. Die nennt sich Bücherkabinett, und die einzigen Schweden, die es bis hierher geschafft haben, sind Henning Mankell und Astrid Lindgren mit ihrem Tagebuch aus dem Zweiten Weltkrieg.

Man könnte meinen, Zentraleuropa habe genug vom Krieg. In jedem Nest wird an die beiden großen europäischen Kriege des letzten Jahrhunderts erinnert. In der Nähe der Kirche von Breitmarkt steht ein Springbrunnen und eine Säule mit den Namen der damals Gefallenen und Vermissten, alles Väter, Söhne oder Brüder von hier. Hundert Jahre später sind viele immer noch vermisst. Die Säule bezeugt, dass Breitmarkt zwischen 1914 und 1945 Krieg gegen Russland geführt hat. Nicht viel mehr. Am Anfang sind die Breitmärkter weit von hier gefallen, fast in Asien, dann immer näher, in Ostpreußen, Pommern, die allerletzten hier vor Ort.

Wasser quillt und plätschert aus dem Springbrunnen neben der Säule. Das Wasser stammt aus einer unterirdischen Quelle, und überall, wo solche Säulen stehen, ist Europa zu Hause.

*****

Unter deutschen Passionen und Leidenschaften haben wir Europäer wohl alle gelitten. Heute sind sie aber gebändigt, mitunter kultiviert, manchmal sogar saisonbedingt. Spargel ist eine solche deutsche Leidenschaft. Heute steht er auf der Speisekarte in Familie Seuferts Zehntkeller, gestern noch nicht.

Die deutschen Leidenschaften waren aber schon gestern oder sogar vorgestern da, lange bevor die Spargelleidenschaft auf der Speisekarte landete.

Und die anderen?

Die - fast alle - haben wir Europäer den Deutschen ausgetrieben. Doch Spargel erlauben wir ihnen, und in der weißen Variante essen ihn die Deutschen besonders gern. Mit Kartoffeln. Das tun wir Europäer nicht, weshalb diese deutsche Leidenschaft uns verdächtig ist.

Mit erlesener Butter. Mit Sauce hollandaise. Mit Bröseln. Mit Olivenöl, sogar mit einem Spiegelei à la Bismarck.

Aber mit Kartoffeln?

Die Deutschen ernten allerdings nicht, was sie essen. Dazu gibt’s Personal: Gestern waren die Spargelstecher Polen, früher Polacken genannt. Heute kommen sie aus der Ukraine oder aus Belarus. Belarus klingt fast wie der Name einer Spargelsorte, eine besonders dicke und blasse, so wie man sie hier gern isst.

*****

In Goslar kümmert sich der Wirt um jeden Gast, setzt sich an meinen Tisch und erklärt die Welt auf Serbisch.

Als Zeichen besonderer Gastfreundschaft und Liebe zu dieser Welt duzt er alle seine Gäste.

Es gehe nicht um Völker, nicht um Serben oder Kroaten, auch die Albaner seien in Ordnung. Es geht um gute und schlechte Menschen, und die Guten kann man ja überall finden. Leider auch die Schlechten. Ist es normal, fragt er, so wie die Muslime sogar Kinder und Frauen in die Luft zu sprengen?

Ich verneine es. Mit meiner Antwort ist er sehr zufrieden. Ich sei ein guter Mensch, es muss nicht einmal gesagt werden.

Nimm heute meine Lammschulter, empfiehlt er. Hier sind alle gute Christen - und es ist Ostern.

Lampen als Ornament

Die Aufklärung in Form von Beleuchtung ist aus dem modernen Hotel ausgezogen, und fast das ganze europäische Reich der Hoteliers liegt seitdem in Finsternis. Wenigstens im Bettbereich. Das Nachtkastl? Immer noch vorhanden. Doch völlig nutzlos steht es da, weil ein Buch oder eine Lesebrille darauf kaum Platz finden kann.

Und noch schicksalsschwerer: die Lampe auf dem Nachtkastl ist reine Dekoration, nichts als Ornament. Adolf Loos hätte sie gehasst. Ihr fahles Licht, wie von einer Laterne im dicken Nebel, taugt nur zu einer gewissen Heimeligkeit, in der wir das Licht mit wohligem Gefühl bald ausknipsen werden, um die Dunkelheit wieder herstellen zu können.

Denn was tut man in einem Hotelzimmer? Allein? - Man schläft.

Gelesen wird im Hotelbett nicht mehr. Einst waren Hotelgäste Literaten und Schreiberlinge, die das Bett zwar zum Schlafen, aber auch zum Lesen benutzt haben. Nicht mehr. Joseph Roth ist längst tot und in Europas Hotels wohnen heute nur Gäste, die vom Bett aus fernschauen. Für Licht, für die Beleuchtung, die es nicht mehr gibt, haben solche Gäste keine Verwendung. Zugegeben, auch für Bücher nicht. Das einzige Buch, das man hier und da auf dem Hotelzimmer vorfinden kann, ist die Bibel. In der kann man blättern, sogar im Bett liegend, bietet sie sozusagen auf eigene Faust Licht und Aufklärung.

Ich habe zwei eigene, säkulare Bücher mitgebracht. Alles vergebens. Das dekorativ dämmrige Licht auf dem Nachtkastl erreicht nur halbkugelförmig meinen Bettrand, die Buchseiten aber nicht. Ich ahne mehr als ich lese, was sich da in meinem Buch abspielt, vermische die Jahrhunderte und die europäische und asiatische Seite Konstantinopels, kann die verschiedenen Sultane und Wesire nicht auseinanderhalten, und gebe schließlich auf, wenn es unter der Kuppel der Hagia Sophia sowieso zu dunkel wird.

Da ich mich aber in Görlitz und nicht in Konstantinopel befinde, einer Stadt, die wie durch ein Wunder von der Zerstörung während des Krieges verschont blieb, wechsle ich als Bettlektüre von meinen "Türkischen Erinnerungen" zu Adolf Hitlers Tischgesprächen im Führerhauptquartier 1941-1944.

Auch das vergebens. Es hilft nicht. Am 14. Dezember - ausgerechnet an meinem Geburtstag - 1941 erklärt Hitler seinen Gästen, unter ihnen Reichsführer-SS Heinrich Himmler, das frühe Christentum: Es führe zur Vernichtung des Menschentums und sei nackter Bolschewismus in metaphysischer Verbrämung.

Wie das alles zu verstehen ist?

Ich bleibe im Dunkeln; es scheint mir, als hätte das Buch hier selbst das Licht ausgemacht. Die Finsternis im Zimmer breitet sich von den Seiten her aus. Dann schalte ich auch das elektrische Licht ab, und schlafe sofort ein.

Spät in der Nacht weckt mich der spröde Klang einer Kirchenglocke. Zwei, vielleicht auch drei Schläge. In meinem Traum haben sie offenbar keinen Platz gefunden.

Rätselhaftes Ölbild

Unter der Glasur eines Märchens träumt der Böhmerwald vor sich hin. Der Wald schläft grün, von saftig frischem zu finsterem, fast blauschwarzem Grün. Starre, scharfkantige Wipfel, einsame Höfe auf gerodeten Lichtungen. In Oberplan, Horní Plána, ist Adalbert Stifter geboren. Ich wusste es, und plötzlich steht das Geburtshaus da, dicht an der Landstraße. Auch das Geburtshaus schläft und träumt vor sich hin. Innen aber nichts vom großen Dichter; nur die physische Enge der damaligen Zeit ist hier von ihm übrig geblieben. Im Innenhof wärmt die Sonne, die Hauswände leuchten weiß und stumm. Es fehlt ein Kater.

Auf der Wand in der Stifterschen Kammer hängt ein Ölbild, das eine Frau mit Heiligenschein zeigt und auf ihrem Schoß ein kleines Kind, ein Mädchen, in kleinen roten Lackschuhen. Aus einem Buch, aufgeschlagen irgendwo in der Mitte, liest die Heilige dem Kind etwas vor. Aufmerksam hört es zu. Ein fast identisches Bild habe ich einmal auf dem Wiener Flohmarkt gekauft.

Ich frage die Dame an der Kasse, wer die Heilige sei.

Sie weiß es nicht.

Ob das Bild Adalbert Stifter oder vielleicht seinen Eltern gehört habe?

Sie weiß es nicht.

Ob hier überhaupt jemand Bescheid wisse?

Auch das weiß sie nicht.

In Stifters Geburtshaus ist es so still wie draußen. Ich bin der einzige Besucher, bezahlt wird in tschechischen Kronen.

Unweit von Oberplan hört der Wald bald wieder auf. Wiesen und Felder. Die ersten Windkraftwerke: Bäume aus einem Märchenwald, von Riesen bewohnt.

Ihre Rotorblätter bewegen sich jedoch recht unbeholfen und zögerlich da oben im Himmel.

*****

Auf dem Weg zurück nach Wien, zwölf Tage später, habe ich noch einmal in Kerschbaum gehalten. Es war bitter kalt, ein eisiger Wind wehte über den Parkplatz vor dem Gasthaus. Ich wollte erfahren, ob Herr Deim am Sonntag zum Mittagessen wieder hier war; zwei Sonntage wären in Frage gekommen. Hat der Wirt meine Grüße bestellt? Und hat Herr Deim, nach so vielen Jahren, sich an mich erinnern können?

Aber das Gasthaus war zu. Ich rüttelte an der Tür, und erst dann, aus der Nähe, sah ich das Plakat im Fenster: Dienstag-Mittwoch Ruhetag.

Und ausgerechnet heute war ein Dienstag.

Richard Swartz,geboren 1945 in Stockholm, war viele Jahre lang Osteuropa-Korrespondent für internationale Zeitungen und lebt nun als Schriftsteller u.a. in Wien, Zagreb und Istrien. Zuletzt sind von ihm folgende Bücher erschienen: "Wiener Flohmarktleben" (Zsolnay, 2015); "Blut, Boden & Geld. Eine kroatische Familiengeschichte" (S. Fischer, 2016).