)
Unsichtbar zu werden wäre selbstverständlich die perfekte Methode, sich selbst zu verstecken. Aktuell arbeiten Physiker daran, eine Art elektromagnetischer Tarnkappe zu bauen. Sollte einer der ältesten Träume der Menschheit wahr werden?
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die Meldung kam vor ein paar Wochen: An der Cornell-Universität im Staat New York soll in einem Labor ein entscheidender Erfolg erzielt worden sein. Es sei nämlich gelungen, wie der Physiker Alexander Gaeta berichtet, ein Ereignis unsichtbar zu machen. Der Trick besteht darin, Licht durch zwei Glasfaserkabel mit unterschiedlicher Geschwindigkeit zu schicken. Damit könnte ein Ereignis so elegant versteckt werden, dass es für elektromagnetische Wellen nicht mehr wahrnehmbar, also unsichtbar ist. So weit, dass man demnächst eine Tarnkappe im Geschäft kaufen kann, sind die Forschungen allerdings noch lange nicht. Bisher konnten nur Ereignisse unsichtbar gemacht werden, die längstens eine Billionstel Sekunde dauerten.
Man kommt aber doch ins Grübeln. Sich unsichtbar machen zu können, ist einer der ältesten Träume der Menschheit. Nach Meinung der alten Griechen konnten nur die obersten Götter ein solches Kunststück vollbringen. Im großen urgeschichtlichen Kampf gegen die Titanen, der zehn Jahre währte und dem die griechischen Götter der Überlieferung zufolge ihre Existenz verdankten, spielte die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, eine entscheidende Rolle. Es war Hades, der Herr des Totenreiches, der über eine Kappe verfügte, ein Geschenk der Kyklopen, die ihm die magische Kraft verlieh, sich den Blicken anderer zu entziehen. Eine Eigenschaft, die wesentlich zum Erfolg der Götter beitrug, denn Hades war mit ihrer Hilfe in der Lage, die Waffen des Kronos zu stehlen, des gefährlichsten Widersachers der Götter.
In späteren Zeiten, so die griechische Mythologie, liehen sich verschiedene Gottheiten und manchmal sogar menschliche Halbgötter die magische Kopfbedeckung von Hades aus, die in einigen Texten der griechischen Antike deswegen als "Hadeshelm" angesprochen wird. Es ging dabei vor allem um kriegerische Angelegenheiten. So wurde die Tarnkappe von Pallas Athene benützt, um ihre Machenschaften im Trojanischen Krieg zu verbergen, oder von Perseus, der sich im Kampf gegen die Gorgonen anders nicht zu helfen weiß.
Auch in den germanischen Mythen steht die kriegerische Seite der Unsichtbarkeit im Vordergrund. So beruhte schon die Macht des Zwergenkönigs Laurin auf seiner Fähigkeit, seine Feinde unerkannt anzugreifen, und Siegfried, der Held, wäre ohne die Tarnkappe, eine Art Mantel, den er ebenfalls einem Zwergenkönig entwandte, längst nicht so erfolgreich gewesen. Allerdings trugen diese Erfolge, wie allgemein bekannt, den Keim eines großen Unglücks in sich: Dass König Gunter sich die Heirat mit der tapferen Brunhilde bei dem vorgeschriebenen Wettkampf nur mit Hilfe des unsichtbaren Siegfrieds verdienen konnte, ist ja nun nicht wirklich als Sieg zu bewerten.

Schlimm kam es dann bekanntlich in der Hochzeitsnacht, in der Brunhilde, unzufrieden mit ihrem frisch Angetrauten, dessen Annäherungsversuche schroff zurückwies und den König schließlich an Händen und Füßen gefesselt an die Wand hängte, ein heutzutage eher seltener Hochzeitsbrauch. Und wieder kommt die sagenhafte Unsichtbarkeit zum Einsatz, diesmal nicht auf dem Schlachtfeld sondern im ehelichen Bett: Wieder ist es Siegfried, der von der Tarnkappe geschützt die unglückliche Königin erotisch überwältigt.
In späteren Jahrhunderten verlor dann die Unsichtbarkeit den Glanz der Götterwelt. In dem berühmten Roman von H.G. Wells zum Beispiel ist der Unsichtbare kein mythischer Held und schon gar nicht ein Gott, sondern bloß ein verkrachter Wissenschaftler. Der Mann namens Griffin hat sein Medizinstudium abgebrochen, sich auf die Naturwissenschaften gestürzt und angeblich bahnbrechende Erkenntnisse auf dem Gebiet der Lichtbrechung erzielt. Unter Geldmangel leidend und ständig von der Furcht besessen, sein Professor könnte ihn um die Früchte seiner Arbeit bringen, arbeitet er an geheimen Selbstexperimenten, die ihn selbst unsichtbar machen. Auf der Flucht vor Vermietern und Gläubigern verpasst er die Gelegenheit, seine Unsichtbarkeit rückgängig zu machen, verwickelt sich in immer neue Verbrechen, versucht sich als Terrorist und geht schließlich in einer Schlägerei mit Straßenarbeitern zugrunde, ohne wieder sichtbar geworden zu sein.
Und wenn man sich nun vorstellt, die Forschungen von Alexander Gaeta an der Cornell-Universität würden glücklicher verlaufen als die des Herrn Griffin und würden eines Tages wirklich dazu führen, dass man im Fachgeschäft eine Tarnkappe kaufen könnte wie einen LCD-Fernseher oder eine Waschmaschine? Dass man also am Schreibtisch sitzt, zum Beispiel, um einen Artikel über Unsichtbarkeit zu schreiben, plötzlich draußen am Gang Besuch kommen hört, den man gar nicht sehen möchte, rasch die Tarnkappe zur Hand nimmt und sich auf diese Art aus der Affäre zieht? Wie wäre das?
Den modernen Forschern sind solche Gedanken natürlich fremd. Sie kümmern sich auch nicht um erotisch glücklose Germanenkönige oder in Bedrängnis geratene griechische Götter. Die nächste Anwendung, von der an der Cornell-Universität die Rede ist, ist die Codierung von geheimen Nachrichten im Datenstrom eines Glasfasernetzes. Und das ist wohl auch realistischer, denn die meisten Menschen wollen in Wahrheit sichtbar sein: Man denke nur an Fernseh-Sendungen wie "Seitenblicke".
Artikel erschienen am 30. März 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 14-15