Zum Hauptinhalt springen

Unterdrücker-Nomenklatura am Ganges oder legitime Tradition?

Von Michael Schmölzer

Politik

Saroja bezahlte mit dem Leben dafür, dass sie in Sandalen durch ihr Dorf in Südindien ging: Sie war eine "Dalit", eine "Unterjochte", wie sich die Kaste selbst nennt, die in ländlichen Regionen Indiens bis heute als "unberührbar" diskriminiert wird. Nach den Jahrtausenden alten Kastenregeln hätte Saroja barfuß gehen müssen. Weil sie das nicht tat, wurde sie von Angehörigen einer höheren Kaste getötet. Unmaßgeblich dabei war, dass Soraja und ihr Mann den beruflichen Aufstieg längst geschafft hatten - sie war Krankenschwester, er Polizist. Die gesellschaftlichen Fesseln konnten sie letztendlich nicht abwerfen. Indische Menschenrechtsaktivisten wollen jetzt bei der UN-Weltkonferenz in Durban/Südafrika die tägliche Diskriminierung eines beträchtlichen Teils der indischen Bevölkerung thematisieren.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 23 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Berichte über gewaltsame Übergriffe auf "Unberührbare" sind immer wieder in den indischen Tageszeitungen zu lesen. Nach wie vor kann es vorkommen, dass die "Dalits" genannten Ausgestoßenen, die immerhin fast 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen, wegen geringfügiger Verfehlungen nackt durch ein Dorf getrieben werden, oder dass sie gezwungen werden, eigene Brunnnen oder Wasserstellen am Fluss zu benutzen. In einigen ländlichen Regionen werden Dalit bis heute nicht in die Tempel der höheren Hindukasten gelassen. Diese "Unberührbarkeit" ist Teil der hinduistischen Tradition. Die in Europa unter dem Namen "Parias" Bekannten wohnen oft am Rande der Dörfer und müssen heute noch die als extrem unrein geltenden Arbeiten ausführen: Sie holen die Fäkalien aus den Häusern der Reichen, schaffen tote Tiere fort und ernähren sich von Essensresten.

Klassengesellschaft

Das Kastensystem existiert in Indien bereits seit Hunderten von Jahren und teilt die Gesellschaft grob gesprochen in fünf Klassen: An der Spitze der Sozialordnung stehen die Brahmanen, als Priesterkaste hoch verehrt. Ihnen wird vor allem Wissen und Weisheit zugeschrieben. Darunter rangieren die Kaschadrijas, die Kriegerkaste, von der geistige und physische Stärke verlangt wird. Die Mitglieder dieser Kaste bekleiden traditionell Funktionen wie die eines Polizisten, Soldaten, aber auch die des Ministerpräsidenten. Die rangniedrigere Kaste der Waischas ist für Handel und Ackerbau zuständig, die Schudras schließlich leisten die unattraktivsten Dienste.

Ein System also, dass dem Europäer rätselhaft und dysfunktional erscheinen muss - ist doch beispielsweise ein hochqualifizierter Chirurg nach der Kastenphilosophie einem Hufschmied gleichzusetzen und damit einem Armeesoldaten prestigemäßig unterlegen.

Diese Gesellschaftsordnung erinnert hierzulande ein wenig an das mittelalterliche Ständewesen, deren Unterteilung in Lehr-, Wehr- und Nährstand spätestens ab dem 18. Jahrhundert obsolet wurde. Total veralteter Unterdrückungsmechanismus oder berechtigte Tradition also? Eines ist zumindest denen klar, die aus Indien einen fortschrittlichen, wirtschaftlich erfolgreichen Staat machen wollen: Mit den westlichen, spätkapitalistischen Grundwerten wie berufliche Mobilität, Flexibilität und Chancengleichheit verträgt sich diese Ordnung nicht. Dabei kann man der indischen Kastenordnung ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit nicht absprechen: Denn neben der oben genannten Grobeinteilung in fünf Kasten existiert in Indien noch eine berufsbezogene Untergliederung, "jatis" genannt. Dieses System soll aus etwa 4000 Sparten bestehen, die Zahl ändert sich allerdings permanent. Als deutsche Firmen beispielsweise begannen, in Indien Werke zu errichten, bildete sich umgehend die Kaste der "Siemens-Hochofenarbeiter" heraus. Die Mitgliedschaft in dieser Gruppe wird allerdings - wie allgemein üblich - vererbt.

Erfindung einer Oligarchie?

Auf den Punkt gebracht lautet der hinduistische Lebensgrundsatz: Man ist, was schon der Vater war und bleibt es bis an sein Lebensende. Eine völlig unmeritokratische Vorstellungswelt, die westliche Firmen, wie auch den sprichwörtlich ambitionierten Tellerwäscher in New York erschaudern lässt. Manche Indologen weisen jedoch darauf hin, dass das Kastensystem in seiner heutigen Form völlig entstellt ist. Denn ursprünglich, so glauben sie zu wissen, kannten die Inder weder Geburtsrecht noch Geburtszwang. Ein jeder Hindu hätte sich in grauer Vorzeit seinen Wünschen entsprechend entwickeln können, Neigungen und Fähigkeiten seien anno dazumal ausschlaggebend gewesen. Im Laufe der Zeit hätten sich - und dieses Phänomen kommt dem Europäer wieder bekannt vor - die Brahmanen als privilegierte Schicht etabliert und als "Nomenklatura am Ganges" den Glauben an die Unabänderlichkeit des vorbestimmten Schicksals genährt.

Wie dem auch sei - der indischen Tradition als Antithese einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft ist jedenfalls schwer beizukommen. Der legendäre Staatsgründer Mahatma Gandhi hat zwar in der indischen Verfassung die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz verfügt, doch Papier ist bekanntlich geduldig. Dennoch ist in den folgenden Jahrzehnten die Kasten-Hierarchie einigermaßen in Bewegung gekommen. So gibt es mittlerweile Gesetze, die den "Unberührbaren" Studienplätze garantieren sollen und eine Quotensystem im öffentlichen Dienst. Ein beträchtlicher Teil der indischen Parlamentsabgeordneten rekrutiert sich mittlerweile aus der untersten Kaste, auch das Präsidentenamt ist ihnen zugänglich. Vor allem in den Metropolen ist der Beruf nicht mehr an die Kaste gebunden. Ressentiments gegen die Parias sind allerdings geblieben. Immer noch sind die Vertreter der oberen Kasten in den führenden Positionen deutlich überrepräsentiert.

Das System hält sich auch deswegen so hartnäckig, weil es unter den "Ausgestoßenen" nachweislich so gut wie keine Solidarität gibt. Wer den beruflichen Aufstieg schafft, bricht den Kontakt zu seinen Ursprüngen ab und sucht für seine Kinder Heiratspartner aus anderen Aufsteigerfamilien.

UN-Thema in Durban

Indische Menschenrechtsaktivisten wollen das Thema jetzt bei der geplanten UNO-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban/Südafrika unter internationaler Beteiligung zur Sprache bringen. Die Anti-Rassismus Konferenz soll vom 31. August bis zum 7. September über Ursachen, Gründe und Formen von Rassismus, seine Opfer sowie Vorbeugungsmechanismen diskutieren. Hauptargument der indischen Aktivisten: Das Kastensystem sei keine innere Angelegenheit Indiens, sondern sollte wie Rassismus in anderen Ländern behandelt werden.

Sicher ist, dass die gängigen Rassismusbegriffe die Ungerechtigkeiten, die im Namen des Kastenwesens begangen werden, durchaus miteinschließen. Denn bei dem indischen Kastensystem handelt es sich nur beim ersten Hinsehen um rein sozial motivierte Unterdrückung. Blickt man einige Jahrhunderte zurück, so erkennt man die ethnische Wurzel des Phänomens: Das Kastensystem in Indien etablierte sich nämlich erst, als arische Stämme vor über tausend Jahren aus dem Norden in den Subkontinent einfielen, ein bereits vorgefertigtes Kastenwesen importierten und der ansässigen, dunkelhäutigen Bevölkerung den Platz am Ende der sozialen Pyramide zuwiesen.