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Feldpostbriefe von Stalingrad vor 80 Jahren bieten neue Einblicke.
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Freitag, 19. November 1942. Über der Steppe zwischen Don und Wolga ist die Sonne aufgegangen. In einem Bunker, unweit des Stalingrader Flugplatzes Gumrak, sitzt der Wiener Unteroffizier Karl Wintereder vor einem Blatt Briefpapier. "Die Bunker sind in Hänge hineingegraben und sehr geräumig und vor allem angenehm warm", schreibt er seinen Eltern nach Österreich. "Ich habe kaum das Gefühl, unter der Erde zu sein, denn es ist viel sauberer und schöner als die Hütten, die wir bis jetzt bewohnten. Die Wände sind mit Holz ausgeschlagen, und auch ein Fußboden ist vorhanden, damit die Beine nicht frieren. Wenn da der Wind über die Steppe pfeift, hören wir kaum etwas, sogar Bombenwürfe und Flakartillerie und schwere Artillerie geht fast ungehört vorbei, obwohl es manchmal ganz nett rumpelt."
Als Wintereder diese Zeilen niederschrieb, ahnte er nichts von den schweren Kämpfen, die seit Stunden an der Don-Front, wenige Kilometer nordwestlich von Stalingrad, tobten. Um 7.30 Uhr Moskauer Zeit - in der Wehrmacht galt grundsätzlich die mitteleuropäische (deutsche) Zeit - war hier über die Verteidigungsstellungen der verbündeten rumänischen 3. Armee ein Donnerwetter hereingebrochen, wie es die Invasoren seit Beginn des Russland-Feldzuges eineinhalb Jahre zuvor nicht erlebt hatten. Von einem "ganz netten Rumpeln" konnte bei dem 80-minütigen Artillerieschlag aus 3.500 Rohren freilich keine Rede sein. Um 8.50 Uhr hob die sowjetische 21. Armee von ihrem Brückenkopf bei Simferowitsch zum Angriff gegen die zerstörten rumänischen Stellungen an und erzielte große Geländegewinne. Als 24 Stunden später auch die Stellungen im Süden der Wolgastadt überrannt werden, ist Gewissheit, wovor wache Geister in der Wehrmacht lange gewarnt haben: dass die in Stalingrad stehende deutsche 6. Armee im Begriff ist, eingekesselt zu werden.
So kommt es dann auch. Freilich sind die Fehler, die zu dieser Katastrophe aus deutscher Sicht geführt haben, zunächst in den Entscheidungen der höchsten befassten Stellen zu suchen. Zum einen wirkte sich Hitlers Weisung, die Heeresgruppe "Süd" in zwei Heeresgruppen (A und B) aufzuspalten und gleichzeitig bis an den Kaukasus und an die Wolga marschieren zu lassen, aufgrund der Überdehnung der Front und der Versorgungswege bald gefährlich auf das Kriegsgeschehen aus. Zum anderen erwies sich auch die oberste Anordnung, Stalingrad noch vor Wintereinbruch um jeden Preis zu erobern, als Fehler - wie nicht zuletzt die Besetzung von Woronesch im Juli 1942 bewiesen hatte. Wie später bei Stalingrad der Fall, konnte auch die Stadt am Don nie vollständig erobert werden, was wiederum viel Blut und Zeit kostete. Rückblickend hätte auch eine Belagerung Stalingrads ihren Zweck erfüllt.
Der Ernst der Lage bleibt auch dem im warmen Bunker sitzenden Wintereder, der in seiner Militärkarriere - erst als Fernmelder, dann als Küchen-Unteroffizer - bereits die Feldzüge gegen Polen, Frankreich und Jugoslawien mitgemacht hat, nicht verborgen. "Ihr daheim werdet das kaum für möglich halten, daß Stalingrad noch nicht fiel, doch wer dieses Ringen um diese Stadt sieht, der greift sich an den Kopf, daß so etwas möglich ist. Kinder, Frauen, alles, was noch kriechen kann, ist eingesetzt und wird von den Komissaren (sic) mit der Waffe gezwungen, sich einzeln erschlagen zu lassen", schreibt er nach Wien. Und an anderer Stelle notiert er: "Wie diese Wesen das Leben aufnehmen, können wir nicht begreifen, denn die sind furchtbar hart im Tragen und können, trotz ihrer Härte, weich wie warmes Wachs werden, wenn man sie mit richtiger Strenge behandelt."
"Sehr viel Elend gesehen"
In Stalingrad hatten die Sowjets indes jedes Schützenloch, jedes Haus und jede Kreuzung in eine Festung verwandelt. Die Hauptlast der deutschen Offensive trugen die Stoßtrupps, der Verlust an Menschenleben und Material war sehr hoch. Besonders heftig umkämpft waren die beiden Bahnhöfe, der berühmte Mamajew-Hügel (Höhe 102) sowie die im Norden gelegenen großen Fabrikanlagen mit dem Stahlwerk "Roter Oktober", der Geschützfabrik "Barrikaden" und der Traktorenwerkhalle "Dserschinski". Ziel der Operation war die vollständige Kontrolle der Stadt und damit der russischen Nachschublinien. "Es kommt kein Schiff mehr die Wolga hoch, das ist das Entscheidende", rief Hitler seinen Anhängern bei einer Rede im Münchner Bräuhauskeller - kurz vor der Einkesselung der 6. Armee - zu. Die Wehrmacht sollte dieses Ziel tatsächlich fast erreichen - doch um welchen Preis?
Die Lage in der Stadt war für die Soldaten wie auch für die Zivilbevölkerung katastrophal. Das Leid der russischen Kriegsgefangenen, die unweit von Gumrak interniert sind, bekommt auch Karl Wintereder persönlich zu spüren. Nach einem "Besuch" des Lagers notiert er in einem Brief niedergeschlagen: "Ich habe schon sehr viel Elend gesehen und bin bestimmt nicht weich, aber so etwas kann einem das Herz abdrücken. Da liegt ein Mädchen mit 18 Jahren, das linke Bein oberhalb dem Knie abgenommen und einem Streifschuß im Nacken und wird von den Hilfskräften kaum beachtet, obwohl es ganz ruhig abwartet, daß man ihr hilft. Ich habe dann mit den Sanis gesprochen, und Du kannst Dir nicht vorstellen, wie gleichgültig und stur die gegen die Verwundeten sind."
Mit Abschluss der "Operation Uranus", wie die Sowjets die Einkesselung der 6. Armee nannten, ist am 22. November das Schicksal von mindestens 250.000 deutschen Soldaten - die Zahl der Eingekesselten variiert in der Literatur - besiegelt. Daran ändert auch die vollmundige Zusicherung von Reichsluftfahrtminister Hermann Göring nichts, die insgesamt 22 bei Stalingrad eingeschlossenen Divisionen, darunter Teile der rumänischen sowie der deutschen 4. Panzerarmee, auf dem Luftweg versorgen zu können. Anstatt der nötigen 300 Tonnen täglich erhielten die Eingekesselten nur einen Bruchteil davon. Der höchste Versorgungsumfang wurde am 19. Dezember mit 289 Tonnen erreicht, an manchen Tagen konnten wegen des schlechten Wetters keine Versorgungsflüge durchgeführt werden.
Bereits am 24. November waren die Rationen halbiert und die Brotzuteilung auf 300 Gramm pro Tag festgelegt worden. Danach wurde die ohnehin schon magere Ration auf 100 Gramm, gegen Ende sogar auf 60 reduziert. Nur konnte von drei Scheiben Brot kaum ein Soldat leben, geschweige denn kämpfen. Hinzu kam die beißende Kälte des russischen Steppenwinters. Die einen verhungerten, die anderen starben an Erfrierung und Erschöpfung.
Post als Hauptsorge
Als Soldat einer Versorgungseinheit der Wehrmacht, konkret in der Küche des Nachschub-Bataillons 542, bleibt dem Wiener Wintereder das grausame Schicksal der Kameraden in Stalingrad erspart. Weder mangelt es ihm an Nahrung noch an Heizmaterial, ja er kommt sogar nach wie vor zum Briefeschreiben. Überzeugt davon, dass sein Dasein im Kessel nur von vorübergehender Natur sein würde, gilt seine Sorge vor allem dem stockenden Postverkehr. "Mich wundert, daß Poßt (sic) überhaupt befördert wird, da doch der Laderaum eines Flugzeuges sehr beschrenkt (sic) ist und Verpflegung und Muni wichtiger sind", schreibt er am Silvestertag 1942 in die Heimat. "Allerdings freut man sich gerade in einer solchen Lage doppelt, wenn irgendetwas aus der Heimat ankommt. Nun sind es schon mehr als 6 Wochen, und ich hoffe, daß es die schwerste Zeit war und der Entsatz von außen bald eintrifft."
Das sollte ein frommer Wunsch bleiben. Bereits vor Weihnachten war der letzte Entsatzversuch der Wehrmacht gescheitert - und die 6. Armee blickte auf Hitlers Befehl ihrer Vernichtung entgegen. Allein Wintereder - selbst überzeugter Nationalsozialist - will die Realität nicht anerkennen. Anstatt auf dem benachbarten Flugplatz Gumrak wie tausende andere einen Platz in einem Flugzeug raus aus dem Kessel zu ergattern, nützt er die Zeit im Bunker, um "nach langer Zeit" ein Bad zu nehmen oder sich die Haare schneiden zu lassen. Wie weit die Realitätsverweigerung bei Wintereder fortgeschritten ist, beweisen diese zynischen Zeilen in seinem letzten Feldpostbrief: "Wir haben so ein paar alte Miesmacher, die täglich schwarz sehen und erst jetzt richtig merken, was überhaupt Krieg ist, denn bis vor kurzem haben die außer einigen Bomben noch nichts gemerkt."
Tod im Kessel
Als dieser letzte Brief des Unteroffiziers am 19. Jänner 1943 abgestempelt wurde, war die Zerschlagung des Kessels durch die russischen Belagerer bereits weit fortgeschritten. Binnen zehn Tagen hatten die sowjetischen Armeen mehr als die Hälfte des nur 1.500 Quadratkilometer großen, von der 6. Armee kontrollierten Gebiets besetzt und standen nun wenige Kilometer vor Gumrak. Über das Schicksal des Karl Wintereder ist nichts bekannt. Wie Recherchen der Kriegsgefangenen-Dokumentationsstelle ÖKIS ergeben haben, wurde der Wiener "von der sowjetischen Hauptlagerverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte nicht registriert" und dürfte daher "im Kessel von Stalingrad den Tod gefunden" haben.
Was von Wintereder blieb, sind rund 100 erhaltene Feldpostbriefe, welche die Jahrzehnte ein einer Schublade überdauert haben und Auskunft über einen bis zuletzt regimetreuen, nicht "ganz normalen" Soldaten - Wintereder war auch Bergsteiger und "Frauenheld" - geben. Die Briefe werden im Frühjahr 2023 als Edition beim Kral-Verlag erscheinen.
Buchtipp~