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"Unterschlagung" oder "Bagatelle"

Von Heike Hausensteiner

Politik

EU-Länder werten Sachverhalte aufgrund ihrer Rechtssysteme unterschiedlich.


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Wien. Der "Vater" der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf (Office de Lutte Anti-Fraude), Herbert Bösch, sitzt - als erster Österreicher - seit Jahresbeginn selbst im Überwachungsausschuss von Olaf. Die Behörde ist Steuerkommissar Algirdas Semeta unterstellt, muss manchmal aber auch gegen Mitglieder der EU-Kommission ermitteln. Olaf muss dennoch unabhängig agieren können. Also wurde zusätzlich dieser "Aufsichtsrat" eingerichtet.

"Olaf muss auf die Finger geschaut werden", so Bösch im Interview mit der "Wiener Zeitung". Aufgabe des Überwachungsausschusses ist es, die Unabhängigkeit und regelmäßigen Untersuchungen von Olaf im Auge zu behalten. Denn bei der Betrugsbekämpfung in der EU geht es um große Summen: Für 2010 schätzte Olaf den (vorsätzlichen) Betrug mit EU-Geld auf mehr als 500 Millionen Euro. Das mache zwar "nur" 0,34 Prozent der Ausgaben aus; doch insgesamt dürften die Unregelmäßigkeiten etwa vier Mal so hoch gewesen sein.

200 Fälle im Jahr

Seit Beginn der Tätigkeit 1999 hat Olaf in rund 200 Fällen pro Jahr ermittelt, berichtete jüngst der neue Generaldirektor, Giovanni Kessler. So konnten jährlich mehr als 200 Millionen Euro an EU-Mitteln zurückgeholt werden. "In absoluten Zahlen sind das Riesenbeträge für die Bürger", so Bösch.

1999 war er derjenige EU-Parlamentarier, der durch die Aufdeckung mehrerer Fälle von Betrug und Misswirtschaft die EU-Kommission unter dem Luxemburger Jaques Santer zum Rücktritt veranlasst hat. Anschließend war er federführend an der Errichtung der EU-Betrugsbekämpfungseinheit beteiligt. Ebenfalls als erster Österreicher war er im Haushaltskontrollausschuss des EU-Parlaments vertreten und später Ausschussvorsitzender. Bösch (57) scheint eine Idealbesetzung in der fünfköpfigen Olaf-Aufsicht zu sein. Doch der ehemalige Vorarlberger Bundesrat sowie Nationalrats- und Europa-Abgeordnete der SPÖ ist aufgrund seiner wiederholten kritischen Stellungnahmen bei der Parteispitze in Ungnade gefallen. Dennoch erfolgte seine jetzige Ernennung zum Mitglied des Überwachungsausschusses für drei Jahre im Einvernehmen mit dem EU-Parlament, dem Rat (also den Regierungsvertretern) und der Kommission.

"Die Mitglieder des Ausschusses bringen umfassende Erfahrung in der Leitung von staatlichen Behörden und politischen Gremien auf dem Gebiet der Leitung, Verwaltung und Durchführung von straf- und verwaltungsrechtlichen Untersuchungen mit", heißt es im letzten Tätigkeitsbericht. Dieser "Erfahrungsschatz" soll garantieren, dass die Grundrechte und die Verfahrensgarantien bei den Olaf-Ermittlungen gewahrt werden. Und der Schutz der vernommenen Personen, gegen die jahrelang ermittelt wird, werde zunehmend schwieriger, erläutert Bösch.

Ein weiteres Problem ist: Olaf hinkt immer hinterher, aufgrund der Art der Finanzierung des EU-Haushaltes. Bösch erneuert deshalb in neuer Funktion seine alte Forderung nach einer direkten EU-Steuer. Andernfalls werde es weiterhin Mitgliedstaaten geben, "die darauf warten, dass Subventionen zurücklaufen".

Die Beträge, die die EU den Mitgliedstaaten als Regional- oder Strukturförderung gewährt, werden nämlich zum Großteil von den nationalen oder regionalen Behörden verwaltet. Olaf muss deshalb gemeinsam mit der nationalen Polizei oder etwa der Guardia di finanza in Italien vorgehen. Damit ist klar, dass die Anti-Betrugsstelle der EU noch lange nicht den Status des FBI in den USA hat. Reformen sollen folgen.

Die Vielfalt der Rechtssysteme in den Mitgliedstaaten macht den Schutz der finanziellen Interessen der EU außerordentlich schwierig. Was in dem einen Mitgliedsland zum Beispiel als Unterschlagung gilt, wertet man im anderen Staat als Bagatelle. Zudem scheitert die konsequente Strafverfolgung in jedem dritten Fall, weil die Nationalstaaten von Olaf zu Ende ermittelte Fälle aus oft ungenannten Gründen einstellen.

Stärkere Kompetenzen

Geht es nach den Wünschen der EU-Kommission, sollen denn auch die Kompetenzen der Betrugsbekämpfungsbehörde gestärkt werden. Am Ende des Prozesses könnte eine europäische Staatsanwaltschaft stehen. Olaf könnte "pro-aktiver" sein, sagt auch Herbert Bösch. "Wenn wir einen EU-Staatsanwalt hätten, bräuchten wir kein Olaf. Genau unter diesem Aspekt ist der Überwachungsausschuss notwendig."

Notwendig sei auch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Bösch verweist auf die bereits Anfang der 90er Jahre festgelegte Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Bloß sei die Wirtschaftsunion verschwunden. "Dieses Olaf braucht es auch deshalb, weil wir keine logischen Schritte miteinander getan haben." Aber eine gemeinsame Wirtschaftspolitik könne nicht von Olaf ersetzt werden.

So laboriere die EU weiterhin an vielen Mangelerscheinungen und funktioniere nicht, wie es eine Organisation mit einem mehr als 100 Milliarden Euro Jahreshaushalt sollte, unterstreicht Bösch. Er stößt sich an Exporterstattungen sowie Zoll- und Mehrwertsteuerbetrug. Alleine durch den Schmuggel von Tabakerzeugnissen entgehen der EU und den Mitgliedstaaten jedes Jahr Einnahmen von rund 10 Milliarden Euro, schätzt die Kommission.