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Unterwegs mit dem Heimholer

Von Horst Widmer

Reflexionen

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"Sie brauchen nur zu sterben, den Rest erledigen wir". Diesen Ausspruch, den der Drnda einmal im Spaß öffentlich getätigt hat, halten viele hier, im Osten Serbiens, für seinen Werbeslogan. Das ist bezeichnend. Jeder kennt den Drnda, die Leute trauen ihm, was seine Methoden betrifft, alles zu, aber sie nehmen ihm nichts übel, im Gegenteil: Man spricht mit Hochachtung über ihn, weil er ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein echter "biznismen" ist.

Rückführer Nummer 1

Tatsächlich hat er mit Drnda Internacional (since 1994) Serbiens größtes Bestattungsunternehmen geschaffen und ist als Rückführer verstorbener Auslandsserben aus ganz Europa unangefochtene Nummer eins. Seine Werbebotschaft, die offizielle, lautet denn auch: "Wenn Sie schon wählen müssen, dann wählen sie den Besten!", und man kann sie, verkündet von einer sinnlichen Frauenstimme, allabendlich im Regionalfernsehen und gelegentlich im staatlichen Satelliten-TV hören, während sich über die ganze Breite des Bildschirms seine Wagenflotte formiert: 20 Leichenwagen, Marke Mercedes, Drndas Stolz.

Ich habe ihn 2006 während einer sechsmonatigen Serbienreise kennen gelernt, diesen Mann, der mit bürgerlichem Namen Radia Mihajlović heißt, sich aber, privat wie beruflich, lieber bei seinem Spitznamen rufen lässt, den er von Vater und Großvater geerbt hat: Drnda - in serbischer Umgangssprache beschreibt dieses Wort ein kräftiges, schepperndes Rütteln, wie man es etwa von einem losen Auspuff kennt. Hinter dem etwas grellen Auftritt seiner Firma wirkt der Mensch Drnda zunächst beinahe grau und unscheinbar; ein kleiner, circa 50-jähriger Herr mit Brille, immer adrett gekleidet, ordnungsliebend und diszipliniert in seinem Lebensstil ebenso wie bei der Arbeit, wo er, trotz naturgemäß schwer kalkulierbarer Auftragslage, seine 30 Angestellten buchstäblich rund um die Uhr meisterhaft dirigiert.

Ich verfolge seine Arbeit nun seit fünf Jahren, besuche ihn regelmäßig und bin stets aufs Neue erstaunt, wie es hier mit professioneller Ruhe und mit Improvisationstalent gelingt, selbst in absoluten Spitzenzeiten, wenn wieder einmal überall gleichzeitig gestorben wird, das Versprochene einzuhalten: Spätestens 48 Stunden nach Bestellung steht, egal wo in Europa, ein Wagen vom Drnda vor der Tür, mit Wunschsarg, Wunschdekoration und sämtlichen amtlichen Papieren für die Überfuhr.

Um drei Uhr nachts sind wir von Drndas Hauptquartier in Požarevac losgefahren. Fünf Stunden Verspätung. Der Motor hat gestreikt; das kann, trotz regelmäßiger Wartung, vorkommen, die Leichenwagen fahren weite Strecken fast jeden Tag. Nach Wien brauchen wir neun bis zehn Stunden. Und noch vor Mitternacht muss der Verstorbene in seinem Heimatdorf nahe Požarevac sein. Sonst kann die für morgen angesetzte Beerdigung nicht stattfinden. So verlangt es der Brauch der Totenwache.

Gastarbeiter-Route

Über den Mann, den wir in Wien holen sollen, wissen wir nur, was in goldenen kyrillischen Lettern auf dem hellbraunen Sarg steht, der hinter uns liegt: Vorname, Nachname, Alter. 54 Jahre.

Meine dritte Fahrt als Beifahrer, aber die erste mit Chauffeur Nikola. Er ist mir der angenehmste unter Drndas Fahrern, ein ruhiger Mann um die 40, mit großer Nase, großen Ohren und großem Herzen. Nikola spricht wenig, raucht viel und kann kichern wie ein Mädchen. Manchmal, wenn ich etwas sage, was ihn amüsiert, höre ich aus dem dichten Nebel im Cockpit fröhliches Glucksen. Zeitdruck ist er gewöhnt. Keine Sorge, sagt er, wir schaffen das. Ich fahre gern mit ihm.

Es ist Ende November, die Nacht klirrend kalt. Wir haben Belgrad bereits hinter uns, bewegen uns in Richtung Novi Sad, als langsam der Morgen dämmert. Belgrad-Novi Sad: der berüchtigste Abschnitt der sogenannten Gastarbeiter-Route auf serbischem Gebiet; hier sind, in fast vier Jahrzehnten Gastarbeiterei, ungezählte Menschen auf dem Weg in den Heimaturlaub oder zurück zu Tode gekommen.

Die Autofahrer, an denen wir auf der Überholspur vorbeiziehen, schauen verwundert herüber; manche, wir erinnern sie vielleicht an ihre eigene Sterblichkeit, bekreuzigen sich. Aber man gewöhnt sich bald daran, im Leichenwagen zu sitzen.

"Hauptstadt von Wien"

Die Müdigkeit nach durchwachter Nacht, einförmig, Stunde um Stunde, das Asphaltband vor uns, eintönig die Ebenen der Vojvodina, einlullend das gleichmäßige Brummen des Dieselmotors, einsilbig Nikola. . . Im Halbschlaf gerät mir die Arbeit, die wir hier machen, zum Film, zum Roadmovie. Darin wird der Drnda zur Metapher, das Wort "Gastarbeiter-Route" erhält einen anderen, weiteren Sinn, im Leichenwagen fahren wir den Weg nicht nur des Verstorbenen, sondern des Gastarbeiters an sich ab.

Abfahrtsort der Leichenwagen ist immer Požarevac, Drndas Zentrale, und kein anderer Ort könnte symbolträchtiger sein. Die größte Gruppe der Serben in Österreich, vor allem in Wien, stammt aus dieser Gegend südöstlich von Belgrad, aus dem Verwaltungsbezirk Braničevo, dessen Hauptstadt Požarevac ist, und aus dem östlich daran angrenzenden, bis zur rumänischen und bulgarischen Grenze reichenden Bezirk Bor. Požarevac, heißt es in Požarevac, ist die Hauptstadt von Wien. Von hier sind sie, als Gast-Arbeiter, aufgebrochen, in der festen Annahme, nach wenigen Jahren zurückzukehren. Bald würden sie sich etwas erspart haben, damit würden sie ein Häuschen bauen, ein Stück Land kaufen und einen Traktor dazu.

Es kam, wie wir wissen, anders, und in all den Jahren, da sie die Rückkehr, die es doch ganz sicher einmal geben würde, vor sich herschoben, führten sie ein Leben im ständigen Dazwischen: in Österreich nie angekommen, in Serbien nicht mehr zuhaus, immer auf der Gastarbeiter-Route, im Kopf ebenso wie im Auto oder Autobus.

Irgendwann, die Kinder sind längst ausgeschult, haben vielleicht selbst schon Familien, irgendwann planen sie die Rückkehr für die Zeit in der Pension. Aber selbst gesetzt, dass sie die erleben, spricht dann plötzlich so vieles dagegen: die Familie, die Gesundheit, die Entfremdung vom ostserbischen Dorf. . . Und während sie noch abwarten und abwägen, klingelt schon der Drnda an der Tür.

Sonnenaufgang an der Grenze. Im Niemandsland zwischen serbischen und ungarischen Zollhütten glitzert der Reif auf dem Steppengras. Kaum Stau, wir haben Glück. Die ungarischen Zöllner sind, seit sie den Westen repräsentieren, streng gegen ihre östlichen Nachbarn, aber Drndas Fahrer haben keine Probleme; man kennt sich. Doch dann muss unser Wagen überraschend in die Garage, er wird dort durchleuchtet und abgeklopft. Gestern, erfahren wir anschließend, hat ein kleiner Mitbewerber Drndas zu schmuggeln versucht: 100 Stangen Zigaretten, versteckt im Sarg. Für ein Roadmovie wäre das zu sehr Klamauk, zu klischeehaft balkanesk.

In Gegenrichtung, beim Leichentransport, wird normalerweise nur formal kontrolliert. Die Zöllner werfen einen Blick in die wichtigsten Papiere, den internationalen Begleitschein und den Leichenpass, die von Drndas Agenten, die in allen Gastarbeiter-Städten zugange sind (allein in Wien sind es drei), auf den zuständigen Ämtern beschafft werden.

Den Leichnam sehen sich die Grenzbeamten verständlicherweise lieber nicht an. Der Sarg für die Überführung besteht aus zwei Schichten, dem äußeren Holzsarg und einem inneren aus Zink. Der Zinksarg wird von Drndas Fahrern verlötet oder, häufiger, einfach mit einer selbstklebenden Alu-Folie verschlossen. Kontrolliert werden sie dabei ausschließlich in Wien, da muss die städtische Bestattung anwesend sein.

Einmal, erzählt Nikola, einmal in zehn Jahren hat er es erlebt, dass ein Zöllner, ein junger Streber, einen Sarg geöffnet hat. Es war ein heißer Sommer und der Tote hatte schon einen weiten Weg hinter sich. "Der hat, so schnell kannst du gar nicht schauen, den Deckel wieder zugemacht!" Nikola kichert ein Weilchen, hustet, spuckt aus dem Fenster und zündet sich eine filterlose Drina an.

Der Leichenwagen parkt an der Rückseite des Wiener Wilhelminenspitals, beim großen Tor zur Pathologie. Wir warten in einer kalten Halle, während unser Toter reisefertig gemacht wird mit der Kleidung, die wir mitgebracht haben: weißes Hemd, schwarze Hose, schwarze Lederjacke. Mit einem Tacker befestigen wir bordeauxfarbene Vorhänge im Holzsarg, damit die Angehörigen, wenn sie den Deckel heben, den Zinkbehälter nicht sehen, sondern nur, durch eine Glasscheibe, das Gesicht des Verstorbenen. Bevor der Zinksarg verlötet wird - die Bestattung Wien verspätet sich, uns läuft die Zeit davon -, legen wir noch, gemäß ostserbischer Sitte, Gaben hinein, die uns die Familie des Verstorbenen mitgegeben hat: Pyjama, Hausschuhe, Rasierzeug, Handtuch, einen Taschenfeitel. Dinge, die ein Mann in der anderen Welt und auf dem Weg dorthin gebrauchen kann. Frauen bekommen Frauensachen: Haarbürste, Spiegel, Seife, Duftwasser usw. Und das meiste davon gibt es praktischerweise beim Drnda zu kaufen.

Überfuhr von Miloević

Drndas Bekanntheit, sagt Drnda, beruht auf Mundpropanda, auf zufriedener Kundschaft. Sicherheitshalber lässt er seine Leute immer auch Werbegeschenke verteilen, kleine Heiligenkalender zum Beispiel oder, die sind am beliebtesten, Schlüsselanhänger in Form von Särgen aus Holz oder Metall. Außerdem inseriert er täglich in "Vesti", dem Boulevardblatt für Auslandsserben. Dieses bringt dafür groß aufgemachte Stories, wenn Drnda speziellere Transporte hat: den dicksten Serben Wiens, eine Hamburger Wasserleiche, Mord aus Leidenschaft in Paris.

Seinen größten Coup landete er aber, als er am 18. März 2006 den Leichnam von Slobodan Miloević von Belgrad in dessen Heimatstadt Požarevac führte. Emotional, sagt Drnda, hat ihn die Sache nicht berührt; er ist Dienstleister, da ist Äquidistanz zu unterschiedlichster Kundschaft oberstes Gebot. Aber die Bilder von der Ankunft im Stadtzentrum, als sich sein silberner Leichenwagen, die Aufschrift Drnda deutlich zu sehen, im Schritttempo einen Weg durch die Menschenmenge bahnte, gingen um die Welt. Später hat er das Fahrzeug an einen windigen Bestatter verkauft, der seither ohne Skrupel mit dem Miloević-Leichenwagen um Kunden buhlt. Über den Kaufpreis wurde Stillschweigen vereinbart.

Im "Hotel Mercedes"

Für die Rückreise durch Ungarn wählt Nikola die alte Landstraße anstelle der Autobahn. Dieser Weg gilt allgemein als schnellere Variante, wenn man entsprechend schnell fährt. Aber die Straße ist gefährlich, unübersichtlich, Raser bevölkern sie und rasende LKWs, die hier die Autobahnmaut umgehen.

Nikola ist übermüdet. Normalerweise legt er, wenn es nötig ist, kurze Ruhepausen auf Parkplätzen ein, Powernapping im, so Nikola, "Hotel Mercedes". Aber dazu ist heute keine Zeit. Also muss ich ans Steuer, und mein Beifahrer schläft auf der Stelle ein.

Die Dunkelheit setzt ein, ich bin ebenfalls übermüdet, außerdem sehe ich schlecht in der Nacht. Die Scheinwerfer des alten Mercedes sind zu stark nach oben gerichtet, geblendete LKW-Fahrer blenden wütend zurück. Ich rase, weil alle rasen, blind durchs nächtliche Ungarn, schaurig-schöne Bilder im Kopf, Bilder von einem spektakulären Tod im Leichenwagen, fette Schlagzeilen für den Drnda. . .

Kurz vor der Grenze wecke ich Nikola, übergebe das Steuer und fühle mich insgeheim geadelt.

Rechtzeitig, eine Viertelstunde vor Mitternacht, erreichen wir das Haus der Familie in S. Im Hof erwarten uns Zigaretten rauchende Männer. Sie tragen den Sarg ins Haus. Die Frauen, Angehörige und Nachbarinnen, weinen laut. Jetzt kommt der schwierigste Teil der Arbeit, auch für den Profi Nikola. Wir sind nicht in Österreich, man kann hier nicht einfach abladen und abfahren. Wir werden ins Haus gebeten, in die Küche, an einen mit Speisen schwer beladenen Tisch. Wir werden aufgefordert zuzulangen, und es wäre sehr unhöflich, es nicht zu tun. Vom oberen Stockwerk herab dringen die Klagen der Frauen, in der Küche stehen die Männer, rauchen, trinken Bier, reden mit uns über das kalte Wetter und die Straßenverhältnisse. Ich warte, bis Nikola endlich sagt, dass es Zeit ist aufzubrechen.

Boomendes Geschäft

"Ihr Leben lang wünschen sie sich einen Mercedes. Am Ende fahren sie in einem: in meinem!" Sagte Drnda einmal zu mir, als wir in seinem Wintergarten saßen, von dem man auf den Innenhof blickt, wo die Leichenwagen parken. Drnda kann zynisch sein, schon, aber er hat auch mehr als andere Grund dazu, denn er war, ab seinem 15. Lebensjahr, selbst Gast-Arbeiter, zunächst in Wien, später im Schwabenland. Ende der 1980er Jahre starb dort ein Freund von ihm. Er kümmerte sich um die Überführung nach Jugoslawien und musste erfahren, wie kompliziert und teuer das damals war. Das brachte ihn auf seine Geschäftsidee. Ohne diese bittere Erfahrung, davon ist er überzeugt, würde er selbst irgendwann mit einem seiner heutigen, kleineren "Konkurrenten" (die Anführungszeichen setzt der Drnda) nach Hause kommen.

Nikola, den phlegmatischen Leichenfahrer, treffe ich hie und da auf einen Kaffee an der Shell-Tankstelle beim Matzleinsdorfer Platz, weil ganz in der Nähe, in der Leichenhalle des Evangelischen Friedhofs, alle Abholbereiten gesammelt werden, deren Weg nicht in die Pathologie geführt hat. Er hat viel zu tun, das Geschäft boomt, Drndas Fuhrpark wächst stetig. Die meisten der frühen Gast-Arbeiter haben die Rückkehr dorthin, wo sie längst für sich und ihre Kinder große, jetzt leerstehende Häuser gebaut haben, verpasst. "Die erste Generation", sagt Nikola, "kehrt mit dem Drnda zurück, die zweite gar nicht mehr."

Horst Widmer, geboren 1964, schreibt Reportagen und Reiseerzählungen für Print und Radio, Schwerpunkt Serbien.