Zum Hauptinhalt springen

Unverhoffte Gelegenheit für Reformer

Von Susanne Güsten

Europaarchiv
Gegen das französische Armenier-Gesetz protestierten Mitglieder des so genannten Ankara-Clubs vor der französischen Botschaft in Ankara. Foto: ap/Ozbilici

Lob und Kritik in der Türkei nach Nobelpreis-Verleihung an Pamuk. | Enge Spielräume für Regierung. | Istanbul. (apa) Nach dem Doppelereignis der französischen Armenier-Entscheidung und des Nobelpreises für Orhan Pamuk steht die Türkei an einem Scheideweg. Das Reformlager fordert, das Land müsse jetzt die Chance nutzen, die sich aus der internationalen Kritik an Frankreich und aus dem Lob für Pamuk ergebe, und mit konkreten demokratischen Veränderungen in der EU verlorenen Boden gut machen. Nationalisten beklagen dagegen, das Ausland habe mit Pamuk einen türkischen Landesverräter ausgezeichnet. Aus ihrer Sicht sind die Europäer ständig darauf aus, die Türkei zu demütigen und zu spalten - etwa durch die Auszeichnung eines Nestbeschmutzers.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 18 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Nun kommt es darauf an, wie die Regierung reagiert. Innenpolitisch werden die Spielräume immer enger, denn die nächsten Wahlen rücken näher. Spätestens im November 2007 wird ein neues Parlament gewählt.

"Unser Stolz und eure Schande", lautete am Freitag die Schlagzeile der pro-europäischen Tageszeitung "Radikal". Dass die erste Verleihung eines Nobelpreises an einen Türken mit der Verabschiedung des von allen politischen Lagern in der Türkei als Provokation empfundenen Armenier-Gesetzes in Frankreich zusammenfiel, empfinden Reformer im Land als unverhoffte Gelegenheit. Von einem "Wendepunkt für den Ausbau der türkischen Demokratie", sprach der Leitartikler der Zeitung "Aksam". Nun könne die Türkei zeigen, dass sie "demokratischer als Frankreich" sei.

Gegen Paragraf 301

Besonders in der Streichung oder Nachbesserung des Strafrechtsparagrafen 301 sehen die pro-europäischen Kräfte in der Türkei eine Chance, ihr zuletzt von der EU heftig kritisiertes Land wieder nach vorne zu bringen. Das Gesetz verbietet die "Beleidigung des Türkentums" und brachte unter anderem auch Pamuk vor Gericht. Der türkische EU-Chefverhandler Ali Babacan hatte vor der französischen Entscheidung angedeutet, dass seine Regierung an einer Änderung des Gesetzes arbeitet.

Während die Bemühungen um einen neuen Demokratisierungsschub anlaufen, machen sich Vertreter der Armenier in der Türkei Sorgen, dass sie Opfer nationalistischer Attacken werden könnten. Der armenische Patriarch Mesrob bat die Behörden in Istanbul um besonderen Schutz für Kirchen und Schulen seiner Gemeinde. Das französische Gesetz sei Wasser auf die Mühlen der Extremisten, befürchtet er.