Historiker Philipp Ther über die Gründe für die Ablehnung von muslimischen Flüchtlingen in Polen, Tschechien und der Slowakei.
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Wien. Vier Regierungen, eine Meinung: Lange traten Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei gemeinsam gegen Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen in der EU auf. Zwar bilden die vier Staaten eine lose Kooperation in Form der Visegrád-Gruppe, sind aber weit von einem homogenen Bündnis entfernt. Das zeigte auch das Ausscheren Polens, das beim Treffen der EU-Innenminister diese Woche letztlich doch für die Flüchtlings-Quotenregelung stimmte. Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit innerhalb der Visegrád-Gruppe stand bisher die hochumstrittene Flüchtlingspolitik von Ungarns Premier Viktor Orbán. Über die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Polen, Tschechien und der Slowakei sprach die "Wiener Zeitung" mit einem der profundesten Kenner der Region: Philipp Ther, Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien.
1. Das vorgeschobene Christentum
Wenn Flüchtlinge aus Syrien, dann nur Christen: Ausgerechnet in einem der am stärksten säkularisierten Länder Europas, Tschechien, zückt Präsident Milos Zeman die "christliche Karte" - ein Politiker, der selbst nie durch besondere Nähe zum Christentum aufgefallen ist. Der slowakische Premier Robert Fico will ebenfalls nur Christen aufnehmen, denn unter die muslimischen Flüchtlinge "könnten sich sehr leicht Terroristen mischen". Historiker Ther sieht die christliche Argumentationslinie von Zeman und Fico als vorgeschoben an.
In Polen verfügt die katholische Kirche über wesentlich größeren Einfluss als in Tschechien und der Slowakei - und setzt sich für die Flüchtlinge ein: "Die Kirche sagte, es gehe um das uralte Prinzip der Nächstenliebe", erklärt Ther. Daneben bildeten langjährige Bürgerrechtler und Teile der Medien, allen voran die linksliberale "Gazeta Wyborcza" des Dissidenten Adam Michnik, das Rückgrat der Pro-Flüchtlings-Bewegung. Die nationalkonservative Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) und Polens neuer Präsident Andrzej Duda hätten hingegen Ängste in der Bevölkerung verstärkt und forderten als wahltaktisches Manöver, keine Muslime aufzunehmen. Am 25. Oktober finden Parlamentswahlen statt, laut Umfragen wird PiS die bisher regierende wirtschaftsliberale Bürgerplattform PO ablösen. "Aus Furcht vor Gegenwind in der Bevölkerung hat sich Regierungschefin Ewa Kopacz der PiS-Linie angepasst. Erst unter dem Druck der urbanen Mittelschicht - einer PO-Kernwählergruppe - und der Kirche änderte sie ihre Position", analysiert Ther.
2. Nur scheinbar homogene Gesellschaften
Muslime stellen in allen drei Ländern tatsächlich nur eine verschwindend geringe Minderheit. Historisch aber habe Polen eine positive Integrationsgeschichte von Muslimen, nämlich die der Krimtataren in der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestehenden polnisch-litauischen Adelsrepublik. "Bis heute gibt es tatarische Dörfer und Moscheen in Polen. Die meisten Bürger wissen das aber nicht - wie generell das Wissen über den Islam und die Staaten des Nahen Ostens gering ist", sagt Philipp Ther.
Viele "nahe Fremde"
Jene, die am wenigsten Kontakt zu Fremden haben, fürchten sich am meisten vor ihnen. Dieses Paradoxon bestehe auch in Polen, Tschechien und der Slowakei. Dabei sind die Gesellschaften in den drei Staaten alles andere als ethnisch homogen - auch wenn es die Bürger teils selbst denken würden: In Tschechien gibt es hunderttausende Arbeitsmigranten aus Russland und der Ukraine. In Polen lebt eine halbe Million Menschen aus der benachbarten Ukraine, auch in der Slowakei befinden sich viele Ukrainer. Allerdings: "Diese Ausländer sind ,nahe Fremde‘, die verwandte Sprachen sprechen und denen die sprachliche Integration entsprechend leicht fällt. In den Gesellschaften herrscht Angst, dass die Integration bei ,fremden Fremden‘ nicht so rasch klappt. Nachrichten über muslimische Extremisten, die Terroranschläge verüben oder Geiseln enthaupten, verstärken diese Angst noch", sagt Ther.
3. Europa der Vaterländer statt Maastricht-Union
Dritter Faktor für Abwehrhaltungen in den Visegrád-Ländern gegenüber muslimischen Flüchtlingen ist der starke politische Populismus oder gar die Konkurrenz zwischen Populisten verschiedener Couleurs. "Die etablierten Parteien geben sich in einer falschen Anpassung einem regelrechten Populismuswettbewerb hin. Besonders schlimm ist die Situation, wenn die Populisten an die Macht kommen - siehe der slowakische Premier Fico oder Tschechiens Präsident Zeman, der gezielt Vorurteile schürt", konstatiert Philipp Ther.
Die Ablehnung der Flüchtlinge speist sich also aus mehreren Quellen. Und sie ist nicht nur in den seit 2004 beigetretenen EU-Ländern präsent - siehe die Enthaltung Finnlands bei der Abstimmung zur Quotenregelung, siehe die Widerstände in Dänemark, Portugal und Spanien. Während Ungarn als Transitland für Flüchtlinge auf dem Weg nach Deutschland schon lange mit dem Thema konfrontiert ist, gingen Tschechien, Polen, die Slowakei und die baltischen Länder davon aus, das Thema würde sie nicht betreffen. Die knapp 10.000 Flüchtlinge, die Polen nun laut dem EU-Verteilungsschlüssel aufnehmen muss, hält Historiker Ther für leicht integrierbar; laut Polens Klerus wären bis zu 30.000 Flüchtlinge tragbar. "In Wahrheit geht es bei dem Konflikt um die nationale Souveränität innerhalb der EU. Um die Frage, inwieweit die EU einzelnen Ländern Migrations- und Gesellschaftspolitik vorschreiben kann", sagt Ther.
Die Premiers-Parteien in Tschechien und der Slowakei gehören der sozialdemokratischen Parteienfamilie an, jene Polens der konservativen Europäischen Volkspartei. "Unabhängig davon vertreten alle drei Regierungen die Idee eines Europas der Vaterländer", erklärt Philipp Ther. Jenes Konzept von Charles de Gaulle lässt die nationale Souveränität weitgehend unangetastet. Unterstützung erhalten die Visegrád-Länder aus Skandinavien und natürlich Großbritannien. Dagegen stehen die Verfechter einer tieferen Integration, die seit dem Vertrag von Maastricht 1992 in der Union führend sind. "Der Wunsch nach Souveränität hängt auch stark mit der sowjetischen Bevormundung und Fremdherrschaft zusammen", ergänzt Ther.
4. Auswirkungen der neoliberalen Wende
Einer der damals aufoktroyierten Werte war die Völkerfreundschaft nach kommunistischer Leseart. Welchen Stellenwert hat diese heute? Bundeskanzler Werner Faymann etwa forderte im Zuge der Flüchtlingskrise von den Quotengegnern Solidarität ein. "Solidarität war 1989 ein ganz wichtiger Wert, was man auch am Namen der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc deutlich sieht. Der Begriff wurde aber im Zuge der wirtschaftlichen Reformen nach der politischen Wende entwertet, wenn auch nicht immer absichtlich. Individualismus, individuelles Gewinnstreben und Selbstverwirklichung stehen nun im Zentrum, Menschlichkeit und Menschenwürde sind unter die neoliberalen Räder gekommen", konstatiert Philipp Ther.
Ausgerechnet die Quotengegner hätten ein massives Problem mit den Minderheiten im eigenen Land, weist der Historiker hin: "Die Entsolidarisierung in den Gesellschaften betrifft die Roma ganz besonders."