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Unzufriedene Iraker drohen mit Ausreise nach Deutschland

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Kein Strom, Korruption und IS-Terror: Im Irak wächst der Unmut.


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Bagdad. Intisar will nur noch weg - aus Bagdad, aus dem Irak. Sie sieht keine Perspektive mehr zwischen Euphrat und Tigris, keine Zukunft für sich, ihren Mann und ihre Tochter. "Es wurde immer nur noch schlimmer", fasst sie die Situation in den letzten Jahren zusammen. "Und die Spirale nach unten nimmt kein Ende." Intisar heißt übersetzt "Sieg", doch von einem Sieg kann die 24-jährige Irakerin nur träumen. Als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Juni 2014 ihre Heimatstadt Tikrit überfiel, floh sie mit ihrer Familie nach Kirkuk und von dort nach Bagdad. Ihr Mann ist Polizist. Staatsdiener wie er wurden zuallererst vom IS getötet. Systematisch durchkämmten die Gotteskrieger nach der Eroberung Tikrits jedes Haus, um nach Polizisten oder Armeeangehörigen zu suchen. Fanden sie einen, machten sie kurzen Prozess. Hunderte seien massakriert worden, berichtet Intisar. Tikrit ist zwar als einzige Großstadt zurückerobert worden, doch zurückkehren wollen Intisar und ihre Familie nicht. Zu tief sitzt die Angst, dass die brutalen Dschihadisten wiederkommen. Jetzt steht sie am Tahrir-Platz in Bagdad und will nach Deutschland.

BrennpunktTahrir-Platz

Seit Wochen finden in der irakischen Hauptstadt Demonstrationen gegen die Regierung statt: gegen eine mangelnde Stromversorgung, gegen Korruption, gegen unzulängliche öffentliche Dienstleistungen, für Reformen. Mal sind es Zehntausende, die am Freitag auf den Tahrir-Platz kommen, mal Hunderte. Aber der Protest reißt nicht ab. Sie wollen so lange weitermachen, bis sich wirklich etwas ändert, sagen die Demonstranten. Seit letztem Freitag haben die Proteste eine neue Dimension erreicht. Transparente zeigen die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, über ihr der irakische Außenminister Ibrahim al-Jaffari, dessen Konterfei rot durchgestrichen ist. Er hatte seine Landsleute zum Verbleib im Irak aufgerufen. Die Menge am Tahrir-Platz in Bagdad aber droht damit, nach Deutschland auszuwandern.

Angefangen hat das Aufbegehren im südirakischen Basra, als die drückende Sommerhitze unerträglich und der Strom immer weniger wurde. Trotz des Ölreichtums haben es die Verantwortlichen in den letzten zehn Jahren nicht geschafft, zumindest die Energieversorgung zu verbessern. Mit fast zwei Millionen Fass Öl am Tag pumpt Basra so viel wie keine andere Stadt im Irak. Und doch sind die knapp vier Millionen Einwohner oft ohne Strom, Müllberge türmen sich auf den Straßen, Abwässer laufen auf Vorplätzen zusammen und bilden Seen. Basra gilt als eine der korruptesten Städte des Landes. Die Menschen haben erkannt, dass sich andere auf ihre Kosten die Taschen vollstopfen. Jetzt protestieren sie nicht nur für mehr Strom, sondern inzwischen auch für bessere Arbeitsbedingungen, mehr Jobs und Aufstiegschancen für junge Leute, weniger Vetternwirtschaft. Ihr Protest weitete sich bis ins 500 Kilometer entfernte Bagdad aus, steckte auch Kerbela, Nadjaf und Diwanija an.

Es ist die Geburtsstunde der Zivilgesellschaft, was wir gerade im Irak erleben. Denn obwohl UNO und US-Administration nach dem Einmarsch der Amerikaner 2003 Millionen von Dollar in den Aufbau zivilgesellschaftlicher Institutionen steckten, blieb der Erfolg aus. Zu starr waren die Strukturen der Diktatur in der irakischen Gesellschaft verankert, als dass von Politik und Religion unabhängige Organisationen eine Überlebenschance bekamen. So sind die unzähligen NGOs, die derzeit im Irak existieren, in hohem Maße klientelorientiert. Von einer nur ansatzweise funktionierenden Zivilgesellschaft konnte bisher keine Rede sein. Das könnte sich jetzt ändern. Mit den pragmatischen Forderungen nach einer besseren öffentlichen Versorgung finden sich nun Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zusammen, die sich auf Graswurzelniveau zielorientiert organisieren. Ein Hoffnungsschimmer für viele Verzweifelte, die schon aufgegeben hatten. "Ich will mein Land zurück oder ich gehe", rufen einige der Demonstranten in Bagdad und meinen dabei nicht die Rückeroberung der Gebiete durch den IS, sondern die Bewältigung ihres Alltags. "Shukran Allmanija" - Danke Deutschland.

Ausweg aus demDilemma

Die wegen der prekären Sicherheitslage nur wenigen in Bagdad verbliebenen Deutschen berichten von vermehrten Telefonanrufen irakischer Bekannten, die den uneingeschränkten Aufnahmewillen Berlins für Syrer und Iraker bejubeln. Als Druckmittel auf die eigene Regierung gäbe die Botschaft von Kanzlerin Angela Merkel den Menschen eine Perspektive, doch noch einen Ausweg aus ihrem Dilemma zu finden.

Bisher galten Kunst, Theater und Musik als Fluchten aus dem durch Krieg, Terror und Gewalt geprägten Alltag. Kulturveranstaltungen jeder Art fanden in Bagdad Massenzulauf. Doch die einschneidenden Kürzungen des Staatshaushalts aufgrund der enormen Militärausgaben zur Bekämpfung des IS ließ den Rotstift zuerst und vor allem im Kulturbereich ansetzen. Bislang wurde in diesem Jahr noch kein Theaterstück inszeniert, kein Film gedreht, keine Fernsehproduktion realisiert und wurden keine Bücher verlegt. Der traditionell am staatlichen Tropf hängende irakische Kulturbetrieb ist praktisch lahmgelegt, finanziell unabhängige Produktionen gibt es kaum. "Ich liebe den Irak", schluchzt Intisar verzweifelt, "aber Irak mag uns nicht." Das schon bewilligte Stipendium für ihre Masterarbeit in englischer Literatur wurde auf Eis gelegt. Kein Student darf derzeit auf Staatskosten ins Ausland. Wer weg will, muss als Flüchtling nach Europa.