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Ur-Amerikaner waren Europäer

Von WZ-Korrespondent John Dyer

Wissen

Neue Theorie basiert auf Funden in den östlichen USA und auf DNA-Spuren.


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Boston. Christoph Kolumbus war nicht der erste Europäer in Amerika. Auch die Wikinger, ein halbes Jahrtausend zuvor auf Stippvisite, waren nicht die ersten. Im Gegenteil: Sie sind in Nordamerika auf ihresgleichen gestoßen. Die ursprünglichen Bewohner Nordamerikas könnten aus Europa gekommen sein. Bisherige Theorien gehen davon aus, dass Amerika vor 15.000 Jahren über Alaska besiedelt wurde. Doch Funde zeigen, dass bereits früher Menschen in Amerika gelebt haben. Sie sollen aus Europa auf Booten entlang des nordatlantischen Eises gekommen sein.

Ein neues Buch amerikanischer und britischer Forscher stellt die These auf, dass die gleichen Menschen, die einst Felsmalereien im heutigen Frankreich und Spanien geschaffen haben, mit Booten über den Atlantik gepaddelt sein sollen. Sie seien dabei den Eisrändern gefolgt, die damals tief in den Nordatlantik gereicht hätten, heißt es in dem Werk "Across Atlantic Ice". Vor 22.000 Jahren hätten sie Nordamerika erreicht.

Das wäre 7000 Jahre eher, als der Kontinent nach bisher gängigen Theorien besiedelt worden sein soll. Die bisherige Lehrmeinung geht davon aus, dass die ursprünglichen Bewohner über die Beringstraße zwischen Alaska und Sibirien nach Amerika gekommen sein sollen. Von Alaska aus hätten sie erst die Westküste und dann den Rest des Kontinents besiedelt.

Die neue Theorie stützt sich auf Funde von Steinwerkzeugen in den US-Ostküstenstaaten Maryland, Virginia und Delaware. Diese Funde ähnelten denen aus der europäischen Steinzeit, sagt Dennis Stanford, Anthropologe an der Smithsonian Institution in Washington. Stanford hat das Buch zusammen mit Bruce Bradley geschrieben, einem Archäologen an der britischen Universität Exeter. "Diese Funde geben uns ein wirklich gutes Bild der Besiedlung der Ostküste vor 20.000 Jahren", sagte Stanford der "Washington Post".

Als Stanford seine Idee vor über einem Jahrzehnt das erste Mal veröffentlichte, wurde ihm Rassismus vorgeworfen. Er wolle nur nachweisen, dass die ursprünglichen Amerikaner keine Asiaten gewesen seien. Jetzt werden seine Thesen ernst genommen. "Ich denke, das ist möglich", sagt Tom Dillehay, Archäologe der Vanderbilt-Universität in Nashville. "Die Hinweise häufen sich, und das rechtfertigt sicherlich eine Diskussion."

Seehundpopulationen bis nach Nordamerika gefolgt

Eine Reihe von Forschungen stärkt Stanfords These. So soll die Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska nur bis vor 17.000 Jahren existiert habe. Damit hätten Siedler zweitausend Jahre später nicht mehr trockenen Fußes nach Amerika kommen können. Außerdem konnte in Sibirien für jene Zeit keine nennenswerte menschliche Besiedlung nachgewiesen werden.

Auf der anderen Seite legen archäologische Funde in Europa nahe, dass die Menschen jener Zeit Hochseefischerei betrieben. Sie benutzten dabei Boote, die mit Tierhäuten bezogen waren, ähnlich den "umiaq", die heute noch von den Inuit in Grönland benutzt werden. Die Europäer jener Zeit könnten Seehundpopulationen nach Island und schließlich nach Nordamerika gefolgt sein.

Ein Messer, mit dem ein Mammut zerlegt wurde

Die europäischen Siedler wären schließlich auch in den Südwesten der heutigen USA gekommen, um dort die sogenannte Clovis-Kultur zu gründen, benannt nach der Stadt Clovis. Dort waren in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts Werkzeuge gefunden worden, die 13.000 Jahre alt sind. Lange Zeit hatten Wissenschafter die Clovis-Kultur als ältesten Hinweis für die menschliche Besiedlung des Kontinents angesehen. Doch in den letzten Jahren wurden immer mehr Funde gemacht, die tausende Jahre älter sind als diejenigen in New Mexico. Stanford verweist unter anderem auf ein Messer, das in den 70er Jahren in 73 Meter Tiefe rund hundert Kilometer vor der Küste Virginias gefunden wurde. Das Messer wurde auf ein Alter von 22.760 Jahren datiert. Während der Eiszeit, als der Meeresspiegel bedeutend niedriger lag, war der Meeresboden, auf dem das Messer gefunden wurde, noch Festland, aber bereits an der Küste. Das Messer wurde von einem Fischtrawler gemeinsam mit Knochen eines Mammuts gefunden. "Ich nehme an, dass die Klinge benutzt wurde, um das Mammut zu schlachten."

Aber nicht alle Wissenschafter sind überzeugt. Die Theorie von Stanford und Bradley würde die Sicht der Wissenschaft auf eine der größten Wanderungen der Menschheitsgeschichte verändern, sagt der Archäologe David Meltzer von der Southern Methodist Universität in Texas. Wenn die neue Theorie stimme, warum seien dann in Amerika nicht ähnliche Felszeichnungen wie jene im französischen Lascaux gefunden worden? Auch sonst zeigten die späteren Ureinwohner keine europäischen Merkmale. "Wenn diese Leute bei uns an Land gekommen sind, dann müssen sie eine kulturelle Amnesie erlitten haben, eine genetische Amnesie, eine linguistische Amnesie und auch eine Amnesie des Knochenbaus", sagt Meltzer.

Manche nordamerikanische Sprachen sind nicht asiatisch

Stanford und Bradley schreiben in ihrem Buch "Across Atlantic Ice", spätere asiatische Einwanderer hätten die ersten europäischen Siedler ausgerottet. Doch es gibt auch Spuren europäischer DNA. Manche nordamerikanische Sprachen haben zudem keine Wurzeln in Asien. Amerika könnte also von zwei Seiten besiedelt worden sein.