Mehr als vier Jahre nach Beginn der Verhandlungen startet die Anklage mit den Plädoyers. Beate Zschäpe droht eine lebenslange Haftstrafe.
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Berlin. Neun Morde an türkischstämmigen Deutschen und ein tödliches Attentat auf einen Griechischstämmigen in den Jahren 2000 bis 2007. Drei Sprengstoffanschläge von 1999 bis 2004. Sowie 14 Banküberfälle in den Jahren 1999 bis 2011. Über die Schreckensbilanz des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) wird seit Mai 2013 am Oberlandesgericht München verhandelt. Nach mehr als vier Jahren, der Befragung von mehr als 800 Zeugen und über 40 Sachverständigen soll die Bundesanwaltschaft in einem zweiten Anlauf am Dienstag mit dem Plädoyer starten. Dessen Länge passt sich der enormen politischen Dimension und Aktenlage an: 22 Stunden, also über mehrere Prozesstage, werden Bundesanwalt Herbert Diemer sowie die Staatsanwälte Anette Greger und Jochen Weingarten über die fünf Angeklagten plädieren. Der Hauptangeklagten Beate Zschäpe droht eine lebenslange Haftstrafe.
In Zschäpe sieht die Staatsanwaltschaft eine Mittäterin bei den Morden und Bombenanschlägen der beiden Neonazis. Sie habe deren Rückzugsraum organisiert und die Taten auch gewollt. Die Thüringerin tauchte im Jahr 1998 mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt unter. Die Männer hatten nach einem Banküberfall und der darauffolgenden Verfolgung durch die Polizei 2011 mutmaßlich Selbstmord begangen. Zschäpe setzte daraufhin die letzte Fluchtwohnung im sächsischen Zwickau in Brand.
"Sie hatte die Jungs im Griff"
Im Prozess stellte sich die 42-Jährige als Rädchen dar, das immer erst im Nachhinein von den Morden und Anschlägen erfahren haben will. Die Taten nahm sie in emotionaler Abhängigkeit von Mundlos und Böhnhardt hin: "Die beiden brauchten mich nicht, ich brauchte sie", ließ Zschäpe über ihren Anwalt verlautbaren.
"Sie hatte die Jungs im Griff", sagte dagegen Zschäpes Cousin aus. Auch der Umgang mit ihren Verteidigern spricht für eine selbst- und zielbewusste Person. Mehrfach versuchte Zschäpe Anja Sturm, Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl abzumontieren, sie haben während des Prozesses mehrfach erfolglos bei Richter Manfred Götzl um Entbindung ihres Mandats gebeten. Seit zwei Jahren haben die drei Anwälte im Gerichtssaal kein einziges Wort mehr mit ihrer Mandantin gewechselt. Zschäpe nahm sich mit Mathias Grasel und Hermann Borchert zwei zusätzliche Verteidiger - die ihrer Mandantin womöglich einen Bärendienst erwiesen haben.
Um das drohende Strafmaß zu mindern, setzten sie darauf, dass Zschäpe eine schwere abhängige Persönlichkeitsstörung attestiert wird, mit der verminderte Schuldfähigkeit einhergeht. Bloß geriet der von den Verteidigern bestellte Psychiater Joachim Bauer in die Kritik: Laut Staatsanwaltschaft habe er sich auf Zeugenaussagen konzentriert, die Zschäpes Anwälte ausgewählt hatten. Seine Neutralität untergrub Bauer weiter, indem er dem Online-Chef der "Welt" ungefragt einen "exklusiven Beitrag" über "Beate Zschäpe und die derzeitige Situation im Münchner NSU-Prozess" anbot: "Das Stereotyp, dass Frau Zschäpe das nackte Böse in einem weiblichen Körper ist, darf nicht beschädigt werden. Eine Hexenverbrennung soll ja schließlich Spaß machen", schrieb Bauer in seiner Beitragsofferte. Dass der Gutachter Zschäpe Pralinen in die Haft mitbringen wollte, komplettierte das desaströse Bild.
Bauer habe den "Eindruck der Parteilichkeit nicht beseitigen" können, schlussfolgerte Richter Götzl und lehnte den Psychiater wegen Befangenheit ab. Während die von Bauer attestierte verminderte Schuldfähigkeit Zschäpes somit wirkungslos ist, bescheinigte der vom Gericht nominierte Sachverständige der Hauptangeklagten volle Schuldfähigkeit. Die Plädoyers gegen Zschäpe und die wegen diverser Beihilfen angeklagten vier Männer sollen vor der Sommerpause des Gerichts Anfang August abgeschlossen werden. Ab September sind die Verteidiger am Wort. Rund viereinhalb Jahre nach Prozessbeginn folgt dann das Urteil.
Zwei U-Ausschüsse
Noch länger könnte die politische Aufarbeitung des NSU dauern. Zwei Untersuchungsausschüsse gab es dazu bereits im Bundestag. Dabei wurden etwa der bessere Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden und die sorgfältigere Auswahl von Verbindungsleuten in die Neonaziszene empfohlen.
Die Linkspartei drängt nun auf einen dritten U-Ausschuss in der kommenden Legislaturperiode: "Wir wissen noch zu wenig über die Rolle der Geheimdienste im NSU-Komplex", sagt die Abgeordnete Petra Pau dem "Freitag".