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Urteil in London reißt in Chile tiefe Gräben auf

Von Eduardo Gallardo

Politik

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Es ist, als seien die Gefolterten und Ermordeten aus ihren Gräbern gestiegen. Die jüngere Geschichte holt Chile ein: Das Urteil der britischen Lordrichter, Augusto Pinochet die Immunität als

früherem Staatschef zu verweigern, könnte eine Aufarbeitung der Militärdiktatur in dem südamerikanischen Land erzwingen, die bisher aus Rücksicht auf die langjährigen Machthaber fast völlig

unterblieb. 3.197 Menschen wurden umgebracht oder verschwanden in der 17jährigen Amtszeit Pinochets, der sich 1973 gegen die sozialistische Regierung an die Macht putschte. Das Urteil und die Folgen

könnten das Land aber auch ins Chaos stürzen.

Zwischen Kommunisten und Konservativen, links und rechts, verläuft in Chile ein tiefer Graben, der in den vergangenen Jahren nur mit morschen Brettern überdeckt wurde. Auf die praktische Politik

übertragen bedeutet dies, daß Pinochet die Verfassung für sich und seine Getreuen selbst zurechtzimmern konnte als Zugeständnis nach seinem Rücktritt 1989. Bis zum März dieses Jahres war er

Oberbefehlshaber des Heeres und ist nun Senator auf Lebenszeit.

Anhänger und Gegner Pinochets gingen am Mittwoch nach der Entscheidung in London auf die Straße und demonstrierten für ihre Sache. Die einen feierten den verspäteten Sieg der Gerechtigkeit, die

anderen ließen ihrem Ärger freien Lauf, daß ihr Held, ihr Vorkämpfer gegen die Kommunisten, nun möglicherweise an Spanien ausgeliefert und wegen Völkermords und Folter vor Gericht gestellt wird.

"Dies ist der schwerste Angriff auf die Souveränität Chiles seit Jahrzehnten", schimpfte Alberto Espina, Vorsitzender der rechten Nationalen Erneuerungspartei. General Luis Cortes, Präsident der

Pinochet- Stiftung, die sich vehement für das frühere Militärregime einsetzt, sagte: "Dies wird Chile unglücklicherweise polarisieren."

Der erste Zorn traf britische Journalisten unmittelbar nach der Urteilsverkündung, die im Fernsehen übertragen wurde. Eigentlich hatten die Anhänger Pinochets an dessen 83. Geburtstag im Haus der

Stiftung einen großen Sieg erwartet, schließlich war er den Briten ein gerngesehener Gast, trank noch vor seiner Festnahme Tee mit Margaret Thatcher. "Es ist so traurig. Der General hat alles für

Chile gegeben", stieß eine Frau nach der höchstrichterlichen Entscheidung unter Tränen hervor. Pinochets Sohn Augusto, um den seit Jahren schwere Korruptionsvorwürfe schwirren, machte mit

überschlagender Stimme er eine "internationale sozialistische Verschwörung" gegen seinen Vater und das ganze Land verantwortlich. Mehrere Anhänger Pinochets, vor allem Frauen, bespuckten die

Mitarbeiter der BBC, schubsten sie aus dem Gebäude und riefen ihnen Schimpfwörter hinterher.

Ganz anders die Stimmung unter den Opfern der Militärdiktatur: Jubelrufe, Sektkorken knallten, Applaus und auch Tränen. "Wir wollen endlich Gerechtigkeit für unsere geliebten Angehörigen. Wir wollen

Gerechtigkeit, keine Rache", sagte Viviana Diaz, eine Vertreterin der Organisation der Angehörigen von mehr als 1.000 Regimekritiker, die nach ihrer Verhaftung durch die Sicherheitspolizei nie wieder

auftauchten.

Die Regierung von Präsident Eduardo Frei ist in einer mißlichen Lage. Die Mitte-Links-Koalition aus Christdemokraten, Demokraten, Sozialisten und linken Sozialdemokraten hat sich bisher vehement für

die Freilassung Pinochets eingesetzt. Nun soll Außenminister José Miguel Insulza, ein Sozialist, nach Madrid und London fliegen, um die Position der Regierung "auf allen Ebenen" zu verdeutlichen, wie

Frei den Bürgern im Fernsehen erklärte. Wie fest er und seine Minister wirklich zu Pinochet stehen, wissen nur sie selbst. Noch im März hatten Abgeordnete der Koalition vergeblich versucht, die

Ernennung Pinochets zum Senator gerichtlich zu verhindern.

Ausschlaggebend für die Zukunft Chiles dürfte die Haltung der Generäle sein. Die Marine warnte in einer ersten Stellungnahme vor einer Spaltung der Gesellschaft. Das Heer bezeichnete das Urteil als

unfair und nicht annehmbar. Die Regierung wurde aufgefordert, die Anstrengungen für den früheren Kommandanten zu verstärken. Frei äußerte sich in seiner Rede zum Volk besorgt über die Folgen des

Urteils. Die Regierung sei sich klar, daß es harsche Reaktionen von gesellschaftlichen Gruppen geben könnte. "Bedingung für den Erfolg der Anstrengung der Regierung ist aber ein

verantwortungsbewußtes und besonnenes Verhalten unserer Einrichtungen und Bürger", sagte Frei. Der Begriff "Einrichtungen" wird in Chile im allgemeinen für das Militär verwendet. Zur Zeit verhalten

sich die Sicherheitsbehörden nach den Vorgaben: So wurden in der Nacht auf Donnerstag Bereitschaftspolizisten eingesetzt, um zu verhindern, daß aufgebrachte Pinochet-Anhänger in der Nähe der

Botschaften Spaniens und Großbritanniens gelangten. Erstmals wurden bei den Protesten auch die Fahnen der rechtsextremen Terrorgruppe "Patria y Libertad" wiedergesehen. Diese Gruppe hatte von 1970

bis 1973 zahlreiche Anschläge gegen die Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende verübt. AP