Gerichtshof weist Klagen Ungarns und der Slowakei gegen Flüchtlingsverteilung ab - Budapest und Bratislava unbeeindruckt.
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Luxemburg/Brüssel/Wien. Jean Asselborn will es schon vor zwei Jahren gewusst haben. Damals hatte sein Land den EU-Vorsitz inne, und der Luxemburger leitete eine Sitzung der EU-Innenminister. Stundenlang rangen die Politiker um einen Beschluss zur Umverteilung von Asylwerbern, die in Griechenland und Italien gelandet waren. Es war der Höhepunkt der Flüchtlingskrise, die Balkan-Route war noch nicht geschlossen, das EU-Abkommen mit der Türkei zu einem verstärkten Grenzschutz noch nicht umgesetzt. Hunderttausende Menschen hatten sich aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Eritrea und anderen Ländern auf den Weg nach Europa gemacht. Griechenland und Italien, wo die Flüchtlinge und Migranten zuerst angekommen sind, waren bald am Ende ihrer Aufnahmekapazitäten.
Eine verpflichtende Quote zur Umsiedlung von Asylwerbern müsse her, befanden einige EU-Mitglieder, allen voran Deutschland. Die Flüchtlinge sollten in der gesamten Union verteilt werden, und die jeweiligen Staaten sollten sich um die Anträge kümmern. Die EU-Kommission legte entsprechende Vorschläge vor. Doch mehrere Anläufe zur Fixierung eines verbindlichen Aufnahmeschlüssels scheiterten, es gab genug Widerspruch - aus Osteuropa aber ebenso aus Frankreich beispielsweise. Bis im September 2015 die Innenminister der EU erneut zu einem Treffen in Brüssel zusammenkamen und einen Beschluss fällten - an den sich laut dem luxemburgischen Außen- und Migrationsminister Asselborn alle zu halten hatten.
Von Einstimmigkeit waren die Politiker aber auch da entfernt. Es wurde eine Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit getroffen. Diese bedeutet ein Votum von 55 Prozent der Mitgliedstaaten, also 16 von 28, die gleichzeitig mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Gegen die Vorschläge zur Aufteilung von 120.000 Menschen waren Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Rumänien. Polen hingegen, das bis dahin ebenfalls die Festlegung einer Quote abgelehnt hatte, war unter den Befürwortern.
Trotzdem war für Asselborn klar: Den Beschluss müssten alle 28 Mitglieder akzeptieren. Das Wort "verbindlich" kam in dem Text zwar nicht mehr vor, da die Aufnahme der Menschen auf freiwilliger Basis erfolgen sollte. Diese Zusagen sollten dann aber verpflichtend sein. Ungarn und die Slowakei sahen das völlig anders und reichten beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) Klage gegen die Ministerentscheidung ein.
Bedenken abgeschmettert
Zwei Jahre später könnte sich Asselborn bestätigt fühlen. Denn die Richter in Luxemburg wiesen die Beschwerden aus Budapest und Bratislava nun "in vollem Umfang" ab. Zum einen trage die Umsiedlungsregelung "tatsächlich und in verhältnismäßiger Weise" dazu bei, dass Griechenland und Italien die Folgen der Flüchtlingskrise bewältigen können - was Ungarn und die Slowakei in Frage gestellt hatten. Vor allem aber wies der EuGH die verfahrensrechtlichen Bedenken der Kläger zurück. Weder hätten das EU-Parlament und die nationalen Abgeordnetenhäuser in die Beschlussfassung eingebunden werden müssen, noch wäre es an den EU-Staats- und Regierungschefs gelegen, diese Entscheidung einvernehmlich zu treffen.
Der Richterspruch bedeutet: Die Regelung, auf die sich die Innenminister geeinigt hatten, ist rechtens. Ungarn und die Slowakei müssten sich daher ebenfalls an sie halten.
Von einer "guten Neuigkeit" sprach prompt EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos. Im EU-Parlament gab es ebenfalls freudige Reaktionen. Aus den Fraktionen der Grünen, Sozialdemokraten und auch aus der Europäischen Volkspartei, der auch die Fidesz von Ungarns Premier Viktor Orban angehört, kamen Forderungen nach einer Umsetzung des Verteilungsbeschlusses.
Die Ost- und Mitteleuropäer sehen das aber weiterhin anders. Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto bezeichnete das EuGH-Urteil als "schändlich und unverantwortlich" und kündigte an: "Die echte Schlacht beginnt erst." Budapest will weitere juristische Schritte gegen die Gesetzgebung setzen.
Der slowakische Premier Robert Fico hat ebenfalls nicht vor, die Position seines Landes zu ändern, und Ähnliches stellte auch schon die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo klar. Polen hat sich bisher geweigert, Asylwerber aufzunehmen. Der tschechische Präsident Milos Zeman erklärte gar, dass Prag eher auf EU-Subventionen verzichten würde als Flüchtlinge ins Land zu lassen. Mit finanziellen Folgen für die Osteuropäer hatten zuvor einige westeuropäische Politiker gedroht.
Beschluss mit Ablaufzeit
Konsequenzen haben Ungarn und die anderen Länder derzeit allerdings nicht zu befürchten. Denn der Luxemburger Spruch betraf vor allem Formalitäten - nicht den Inhalt der Regelung. Wollte die EU deren Nicht-Umsetzung ahnden, müsste die Kommission ein Verfahren wegen Vertragsverletzung einleiten. Das ist bisher nicht passiert, auch wenn Avramopoulos die Möglichkeit nicht ausschließt.
Der Ministerbeschluss vom September 2015 hat übrigens eine Ablaufzeit. Die 120.000 Asylwerber hätten innerhalb von zwei Jahren verteilt werden sollen. Tatsächlich umgesiedelt wurden aus Griechenland und Italien bisher knapp 28.000 Menschen.