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US-Demokraten: links, liberal, potenziell fatal

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Politik

Präsident Biden muss sein geplantes Investitionspaket radikal kürzen. In seiner Partei treten alte Bruchlinien zutage.


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Der Präsident hat kapituliert. Über Monate versuchten Joe Biden und seine Verbündeten im US-Kongress jene zwei Vorhaben durchzuboxen, die das Weiße Haus zu seinen absoluten Prioritäten erklärt hat: einerseits ein Bündel an Gesetzen, das die marode amerikanische Infrastruktur auf Vordermann bringen soll, anderseits eine nachhaltige Ausweitung des notorisch löchrigen Systems der sozialen Absicherung im Land. Von dem Kostenvoranschlag, mit dem Biden ins Rennen gegangenen war - 3,5 Billionen Dollar -, ist am Donnerstag nach einer vor der Europareise des Präsidenten kurzfristig angesetzten Verhandlungsrunde jetzt nur mehr die Hälfte übrig geblieben.

Mit Hilfe des 1,75-Billionen-Pakets sollen nun unter anderem, die - bisher mitunter horrenden - Kosten für Kinderbetreuung für viele Familien im Land reduziert und Gesundheitsleistungen ausgebaut werden. Ein Drittel der Mittel sind allerdings für Investitionen im Kampf gegen die Klimakrise eingeplant, darunter Investitionen in erneuerbare Energien oder Steueranreize für den Kauf von Elektroautos.

Blockade überall

Dass der Präsident sein Prestigeprojekt nun eindampfen muss, hat aber weniger mit den oppositionellen Republikanern zu tun, als mit den Widerständen in seiner eigenen Partei. Denn während die Abgeordneten der Grand Old Party im Kongress die Obstruktionspolitik, die sie schon unter Bidens Vorvorgänger Barack Obama zur Kunstform erhoben, einfach fortführen, ergehen sich die Demokraten in jener Art von internen Kämpfen, die noch keiner Partei jemals gut bekommen sind.

Auf der einen Seite stehen die sogenannten Moderaten, verkörpert vom 74-jährigen Joe Manchin, Senator aus West Virginia und Kyrsten Sinema, Senatorin aus Arizona. Auch wenn ihre Fraktion im Ober- wie im Unterhaus überschaubar ist, bekommt ihr Wort durch die knappen Mehrheitsverhältnisse hier wie dort enormes Gewicht. Nachdem beide trotz des Altersunterschieds - Sinema ist erst 45 - nahezu ihr gesamtes Berufsleben in der Politik verbracht haben, wissen sie das weidlich auszunutzen, um sich als selbsternannte "Stimmen der Vernunft" zu präsentieren, die sich um Ausgleich und fiskalische Disziplin bemühen. Auf der anderen Seite steht die sogenannte progressive Fraktion, deren bekannteste Gesichter Bernie Sanders, Senator von Vermont, und die New Yorker Unterhaus-Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez sind und die gerne noch viel mehr Geld für Soziales ausgeben möchte als der Präsident.

Vor kurzem galt Manchin, der Bidens Billionen-Pakete immer wieder öffentlichkeitswirksam torpedierte, noch als seltsamer Kauz. Krachend scheiterte sein Gesetzesvorschlag über die Rechte der amerikanischen Wählerinnen und Wähler. Der "Freedom to Vote Act" enthielt zwar wenig Revolutionäres: unter anderem die Einführung bundesweiter Standards, die eine Stimmabgabe vor dem Wahltag ermöglichen sollen; eine Garantie, seine Stimme per Brief abgeben zu können; die Erklärung jener Tage, an denen landesweite Wahlen stattfinden, zu Feiertagen; und eine Vereinheitlichung der Richtlinien, die den Wahlbehörden die Identifikation der Wählerinnen und Wähler leichter machen sollte. Mit einem Wort: praktisch alles, was in gefestigten Demokratien eine Selbstverständlichkeit darstellt. Nicht so in den Vereinigten Staaten im Jahr 2021.

Weil sich unter den 50 Senatoren der Republikanischen Partei kein einziger fand, der auch nur einer dieser Maßnahmen zustimmen wollte, schaffte es Manchins Gesetzesvorschlag nicht einmal über die erste prozedurale Hürde hinaus. Angesichts der Entstehungsgeschichte ein politisches Eigentor epischen Ausmaßes: Weil ihm die Vorschläge seiner eigenen Parteifreunde, allen voran derer im Repräsentantenhaus, zu weit gegangen waren, hatten sich Manchin und seine Mitarbeiter den Sommer über hingesetzt und ihr eigenes Paket geschnürt. Die seinerzeitige Begründung: Die Liberalen müssten für ihr Vorhaben auch konservative Senatoren ins Boot holen und wenn sie das nicht schaffen, müsse er selber Hand anlegen.

Ob Manchin wirklich ernsthaft daran glaubte, dass er zumindest ein paar seiner republikanischen Kolleginnen und Kollegen von der Sinnhaftigkeit seiner Vorschläge überzeugen würde können, weiß niemand. Wer indes glaubte, dass ihn seine Blamage bescheidener gemacht hätte, irrt. Um das Thema aus den Schlagzeilen zu verdrängen, ließ Manchin, der auch beim Klimaschutz bremst und Gründer des Kohleunternehmens Enersystems ist, flugs verbreiten, dass er darüber nachdenke, zu den Republikanern überzulaufen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Oberhaus eine so unverhüllte wie gefährliche Drohung, gerichtet an seine eigene Partei wie ans Weiße Haus.

Biden zwischen den Stühlen

All das macht Manchin zum Gegner der "Progressiven". Deren Galionsfiguren Sanders und Ocasio-Cortez ist jedoch bewusst, welch verheerendes Bild es in der Öffentlichkeit abgeben würde, wenn sie Manchin und auch Sinema allzu offen attackieren würden. Biden, dessen konkrete Politik Manchin und Sinema näher steht, muss derweil alle Kräfte aufbieten, um die Flügel und alle, die zwischen ihnen stehen, zusammenzuhalten. Die Tatsache, dass er dabei die volle Unterstützung von Chuck Schumer und Nancy Pelosi genießt, den Mehrheitssprechern von Senat und Repräsentantenhaus, hilft ihm nur bedingt, weil das Problem de facto ein systemimmanentes ist. Eines, das so alt wie die Demokratische Partei in ihrer heutigen Erscheinungsform - sprich, es existiert seit Ende der Sechzigerjahre, als Präsident Lyndon B. Johnson entschied, nicht zur Wiederwahl anzutreten, weil das US-Engagement in Vietnam das Land wie die Partei in einem Ausmaß spaltete, das ihm das Regieren verleidete.

Mit Ausnahme der Amtszeit von Jimmy Carter (1977-1981) schafften es die Demokraten erst wieder 1992, einen der ihren ins Weiße Haus zu bekommen, aber der Preis dafür war hoch - und die Folgen dessen, was in der Amtszeit von Bill Clinton mit der Partei passierte, wirken bis heute nach. Hatte der Gouverneur von Arkansas im Wahlkampf noch den relativ Progressiven gegeben, vollzog er, je länger seine Präsidentschaft dauerte, rhetorisch wie realpolitisch einen Rechtsruck. Parteiintern herrschte trotzdem weitgehend Ruhe, weil sich Clinton im Kongress immer dann, wenn es eng wurde, auf jene Fraktion verlassen konnte, der er kulturell von jeher näher stand als allen anderen: den sogenannten "Blue Dogs" - Abgeordnete der Demokratischen Partei, die aus prinzipiell mehrheitlich konservativen Bundesstaaten kamen und bisweilen weiter rechts standen als manche Republikaner.

Konsens längst aufgekündigt

Auch wenn die fortschreitende Polarisierung der US-Innenpolitik die Zahl der "Blauen Hunde" im Lauf der Jahrzehnte immer weiter schrumpfen ließ, machten sie ihren Einfluss stets dann geltend, wenn es auf ihre Stimmen ankam. Prominentestes Beispiel: die Verwässerung der Reform des Gesundheitssystems unter Barack Obama, dessen ursprüngliche Pläne viel weiter gegangen waren als das, was die USA heute als "Obamacare" kennen. Es ist diese Tradition, in der sich Manchin, Sinema und zwei bis drei Dutzend Abgeordnete im Unterhaus verstehen und die ihren "Parteifreunden" die Grausbirnen aufsteigen lassen. Tatsächlich sind die ideologischen Gegensätze kaum vereinbar. Zu unterschiedlich sind die Visionen von der Zukunft der Partei: auf der einen Seite das Festhalten an ehedem moderaten Positionen und einem Konsens mit den Republikanern, den diese in der Realität längst aufgekündigt haben, auf der anderen die von im Grunde klassisch sozialdemokratischen Demokraten, die den USA ein Sozialsystem nach skandinavischem Modell verpassen wollen.

Welche Fraktion gestärkt beziehungsweise geschwächt werden wird, entscheidet sich in einem Jahr, wenn mit den Midterms der erste Test für die Biden-Präsidentschaft ansteht - in politischer Zeit eine Ewigkeit. Wenn es die Demokraten bis dahin nicht schaffen, sich zusammenzuraufen und die Republikaner die Mehrheit im Senat und im Unterhaus zurückerobern, wird die Frage, wie es mit Ersteren weitergeht, vielleicht schon bald gar nicht mehr relevant sein. Die Mehrheit der konservativen Abgeordneten lässt kaum Zweifel daran, dass sie das Modell der US-Demokratie in seiner heutigen Form für überholt halten und ein autoritäres Führersystem bevorzugen.