Während man sich in Kiew trotz des russischen Aufmarsches ruhig gibt, schlägt Washington seit Wochen Alarm. Warum?
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Es ist eine Situation, wie sie nicht alle Tage vorkommt: Während das russische Militär mit seinem Truppenaufmarsch die Schlinge um den Hals der Ukraine immer enger zog, während vor allem aus Washington und London wochen-, ja monatelang schrille Warnungen vor einem möglichen russischen Angriff ertönten, zeigte man sich in Kiew ebenso lang bereits betont gelassen. Die russische Bedrohung, ja den Krieg gegen die Ukraine gebe es seit 2014, ließ Präsident Wolodymyr Selenskyj verlauten. Man sei vorbereitet, die Armee gut gerüstet. Ansonsten: Nur keine Panik! Das schade der Wirtschaft des Landes und das sei auch das wahre Ziel des Kremls. In einem jüngsten Telefongespräch lud Selenskyj gar US-Präsident Joe Biden nach Kiew ein.
Dass der der Einladung derzeit Folge leistet, ist freilich extrem unwahrscheinlich. Biden hat eben erst - als "Vorsichtsmaßnahme" - die Verlegung der US-amerikanischen Botschaft von Kiew nach Lemberg angeordnet, in die Nähe der Grenze zu Polen. Immer noch warnt man in Washington vor einem jederzeit möglichen Angriff: "In dieser Woche" könnte Russland bereits Maßnahmen gegen die Ukraine ergreifen, zeigte sich US-Außenminister Antony Blinken am Dienstag besorgt. Zuletzt hatte man in Washington davon gesprochen, dass ein russischer Einmarsch in die Ukraine noch vor Ende der Olympischen Winterspiele in China am 20. Februar erfolgen könnte. Man hatte mögliche Angriffsdaten genannt und sich auf Geheimdiensterkenntnisse und Satellitenbilder berufen.
Geschossen wurde bisher in der Ukraine allerdings nicht (vom Donbass einmal abgesehen). Die Situation ist zwar überaus angespannt. Es sieht aber nicht so aus, als stünde ein Großangriff bevor. "Die 100.000 bis 120.000 russischen Soldaten, die derzeit an der Grenze zur Ukraine stationiert sind, reichen niemals für eine Besetzung der ganzen Ukraine aus", sagt der österreichische Politologe Heinz Gärtner der "Wiener Zeitung".
Russland beginnt mit Abzug
"In die frühere Tschechoslowakei, wo kein militärischer Widerstand zu erwarten war, hat die damalige Sowjetunion 500.000 Mann hingeschickt. Die USA haben 1991 mit 650.000 Soldaten den kleinen Golfstaat Kuwait von der irakischen Besetzung befreit - ein Gebiet, das 40 Mal kleiner ist als die Ukraine. Die Vorstellung, Russland könnte mit maximal 120.000 Mann die riesige, gut gerüstete Ukraine mit ihren 250.000 Soldaten erfolgreich besetzen, ist außerhalb der Realität", analysiert der Politologe vom International Institute for Peace (IIP) in Wien.
Die Entwicklung am Dienstag scheint Gärtners Sicht der Dinge zu bestätigen: Russland hat nach eigenen Angaben mit dem Abzug von Truppen im Süden und Westen des Landes begonnen. Bei der Nato und in der Ukraine zeigt man sich allerdings noch skeptisch: "Bisher haben wir vor Ort keine Deeskalation gesehen, keine Anzeichen einer reduzierten russischen Militärpräsenz an den Grenzen zur Ukraine", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der sich dennoch vorsichtig optimistisch zeigte.
Sollte es sich wirklich um einen echten Rückzug handeln, bot Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, in einem Beitrag im sozialen Netzwerk Telegram jedenfalls bereits einen Vorgeschmack auf die russische Exit-Strategie aus dem Konflikt: "Der 15. Februar", schrieb Sacharowa, "wird als Tag des Scheiterns der westlichen Kriegspropaganda in die Geschichte eingehen." Der Westen habe sich blamiert.
Putins Fehdehandschuh
Tatsächlich bleibt, was das Verhalten insbesondere der USA anlangt, eine Frage offen: Wenn das, was Gärtner analysiert hat, stimmt - warum waren die Warnungen Großbritanniens und der USA in den letzten Wochen und Monaten dann dermaßen schrill? Zumal Gärtner der "Wiener Zeitung" auch mitteilte, dass Washington "weiß, dass Russland nicht angreifen wird." Wenn man sich selbst in Kiew entspannt gibt und auch die USA wissen, dass zumindest ein Großangriff sehr unwahrscheinlich wäre - warum dann die eskalierende Rhetorik?
Ein Grund könnte darin liegen, dass die USA den Fehdehandschuh, den ihnen Putin hingeworfen hat, aufnehmen müssen - schon um das von Biden groß angekündigte Comeback des Westens möglichst glaubhaft erscheinen zu lassen. Dabei ist das Hauptziel der US-Politik seit mindestens zehn Jahren nicht mehr, Russland einzudämmen, sondern China, den großen Rivalen im Kampf um die Nummer eins in der Welt. Hier gilt es für Biden auch, die Verbündeten hinter sich zu sammeln - indem man Stärke zeigt und als Leitwolf auftritt.
Keine zweite Krim
"Biden ist außerdem in den USA unter Druck", sagt Gärtner. "Die Falken im Kongress fordern ein verstärktes militärisches Engagement in der Ukraine, wollen Truppen Richtung Kiew schicken. Deshalb betont der US-Präsident auch immer wieder, dass er keine Truppen dorthin schickt - nach den Erfahrungen in Afghanistan." Auf Abschreckung muss Biden gerade deshalb dennoch setzen - sei es durch verbales Säbelrasseln, sei es dadurch, dass man der eigenen Einflusszone in Osteuropa, etwa Polen und den baltischen Staaten, Solidarität und Hilfe zusichert und Truppen schickt.
Ein weiterer Grund ist: Die USA wollen sich nicht noch einmal von Putin ausspielen lassen - wie 2014 bei der Annexion der Krim, von der man völlig überrascht war. Diesmal ging man proaktiv in die Offensive, auch um ein Signal an die Öffentlichkeit zu setzen: Russland soll der Spielraum genommen werden, für eine Aggression gegen die Ukraine welcher Intensität auch immer einen passenden Vorwand zu schaffen. Man will bereits im Vorfeld klar kommunizieren, wer in diesem Konflikt der Angreifer und wer der Angegriffene ist.