Afghanen fürchten neuen Bürgerkrieg nach Nato-Abzug. | Auch Al Kaida erreichte Ziel nicht.
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Islamabad/Kabul. Wer vor zehn Jahren Kabul besuchte, hatte wenig Grund, zum Bagh e-Babur, der größten Sehenswürdigkeit der afghanischen Hauptstadt, zu kommen. Der ehemals prächtige Paradies-Garten lag in Trümmern. Der jahrelange Raketen-Beschuss während des Bürgerkrieges hatte die Wasserbecken und die grünen Terrassen, die nach Westen zum Kabul-Fluss abfallen, zerstört. Die Gebäude zerfielen, Anwohner fällten die vertrockneten Park-Bäume, um Brennholz für den harten afghanischen Winter zu sammeln. Die historische Karawanserei, eine Raststätte für die Kamel-Karawanen auf der Seidenstraße, diente als Munitionslager.
Heute sitzen afghanische Familien wieder auf den Rasenstreifen unter Maulbeerbäumen zwischen den Wasserläufen, die die Ströme des Paradieses symbolisieren, und picknicken. Die Idylle könnte perfekt sein, wenn nicht die Angst wäre vor der ungewissen Zukunft, wenn die USA abgezogen sind und der Einsatz des Westens nach mehr als einem Jahrzehnt ausläuft.
Zehn Jahre, nachdem am 11. September 2001 die Zwillingstürme in New York einstürzten und Amerika einen selbstproklamierten Krieg gegen den islamischen Terrorismus begann, ist der globale Konflikt, der das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts prägte, ohne einen klaren Sieger. Der Krieg gegen das Taliban-Regime entwickelte sich zu einem zähen und hässlichen Konflikt, der pro Tag Millionen Dollar verschlingt und auch eine Dekade später nahezu unlösbar erscheint. Knapp einen Monat, nachdem zwei gekaperte Passagierflugzeuge in die ikonischen Gebäude in Manhattan gerast und knapp 3000 Menschen gestorben waren, begannen am 7. Oktober 2001 die USA und Großbritannien mit Luftangriffen auf Afghanistan, wo die Taliban das islamistische Terrornetzwerk Al Kaida beherbergten. Innerhalb von zehn Wochen hatten die gezielten Bombenangriffe der westlichen Alliierten die Taliban-Regierung und ihre Führer verjagt.
Doch was zunächst als schneller Triumph gefeiert wurde, sieht nach zehn Jahren zwar nicht wie eine völlige Niederlage, aber auch nicht nach glänzendem Sieg aus. Die vom Westen gestützte Regierung in Kabul ist schwach. Die aufständischen Islamisten kontrollieren weite Teile des Landes. Es ist kaum möglich, sicher auf dem Landweg aus der Hauptstadt Kabul nach in den Süden nach Kandahar, Afghanistans zweitgrößter Stadt, zu gelangen.
Viele Afghanen befürchten einen neuen Bürgerkrieg. Denn das Kapitel des westlichen Engagements in der Geschichte Afghanistans geht dem Ende entgegen. US-Präsident Barack Obama hat erklärt, er werde im kommenden Sommer ein Drittel der fast 100.000 US-Soldaten vom Hindukusch abziehen. Die Kampfeinsätze der ausländischen Truppe sollen bis 2014 beendet sein - auch wenn von dauerhaften militärischen Erfolgen wenig zu spüren ist nach einem Jahrzehnt Krieg und Millionen Dollar in Aufbauhilfe.
Al Kaida verfehlt Ziel
Doch auch Al Kaida hat wenig Grund zum Triumph: Dem Netzwerk ist es nicht gelungen, sein Hauptziel zu verwirklichen. Es gab keinen weltweiten Aufstand der muslimischen Bevölkerung gegen westliche Vorherrschaft und keine Gründung eines neuen Kalifats, dessen ideologische Ausrichtung sich an den harschen islamischen Sharia-Gesetzen orientiert. Ob das Kalkül von Al-Kaida-Gründer Osama bin Laden aufging, die USA in einen Krieg zu locken, dessen Kosten die einzige wirkliche Supermacht der Welt grundlegend schwächen könnte, ist strittig. Der arabische Frühling kam für Al Kaida ebenso überraschend wie für die Vereinigten Staaten. Die Organisation brauchte Tage, um auf die politische Entwicklung auf dem Tahrir-Platz in Kairo zu reagieren. Die Massenbewegung für westliche Werte wie Menschenrechte und Demokratie in der islamischen Welt kam für beide Seiten unerwartet.
Unzählige Opfer
Auch wenn die 9/11-Kriege keinen klaren Sieger haben, stehen die Verlierer dieses mehrfachen Konfliktes bereits fest: Im Westen waren dies die Opfer des 11. Septembers 2001, die Toten und Verletzten der Bombenanschläge von Madrid und London. Im arabischen Raum und in Asien zählten dazu die Opfer der fehlgeleiteten Drohnen-Angriffe in der bergigen Grenzregion von Pakistan, Gläubige, die beim Freitagsgebet in Moscheen in Afghanistan oder Pakistan erschossen wurden, Menschen, die bei Anschlägen auf islamische Schreine in der Punjab-Provinz starben, Polizisten, Soldaten, Reisende, die auf dem Hauptbahnhof im indischen Mumbai am 26. November 2008 auf ihren Zug warteten, Gäste in Luxushotels in Pakistan und Indien, Touristen im pakistanischen Swat-Tal, wo Taliban die Herrschaft über das idyllische Feriental übernommen hatten, unschuldige Zivilisten, die zwischen die Kriegsfronten gerieten, Autofahrer, die aus Versehen von privaten Sicherheitsleuten des US-Unternehmens Blackwater erschossen wurden, Gefangene in Bagram und Abu Ghraib, die von ihren Wächtern gefoltert wurden, Opfer religiöser Gewalt in Bagdad, von den Taliban als Spione Hingerichtete, Reporter auf der Suche nach der Wahrheit, Flüchtlinge, die von der EU beim Überqueren einer Grenze entdeckt wurden, Ärzte, die in abgelegenen Tälern Afghanistans Kranke operierten, unerschrockene Politiker, die sich für Menschenrechte und Religionsfreiheit einsetzten, Polizisten, die an Checkpoints in die Luft gesprengt wurden. Die Liste der Opfer ließe sich beliebig verlängern.
Neben Afghanistan und Irak, dem Schauplatz der beiden Kriege des 9/11-Konfliktes, hat Pakistan die meisten Opfer zu beklagen. Das Nachbarland zu Afghanistan hatte die ersten Toten dieses komplexen Konflikts außerhalb der Vereinigten Staaten zu verzeichnen, als die Polizei im September 2001 auf Demonstranten schoss.
Pakistan in der Krise
Die Dekade nach dem 11. September stürzte die islamische Republik in die schwerste Krise ihrer Existenz und veränderte das Land fundamental. Um die 9000 Tote und bis zu 15.000 Verletzte habe der Konflikt in Pakistan gekostet, meinen westliche Beobachter. Die Regierung in Islamabad gibt die Zahl der Toten seit dem 11. September 2001 mit 35.000 an.
Nur unter massivem Druck der USA schlug sich die Atommacht Pakistan im Anti-Terror-Krieg auf die Seite des Westens, nachdem es zuvor freundschaftliche Beziehungen zum Taliban-Regime in Kabul unterhalten hatte. Aus Protest gegen die Allianz mit den USA nahmen islamische Dschihad-Kämpfer, die als Schattentruppe nach Afghanistan und gegen Indien in den Kampf geschickt worden waren, einen brutalen Krieg gegen den pakistanischen Staat auf.
Seit über vier Jahren verüben lokale Taliban-Gruppen ohne Atempause Selbstmordanschläge und Angriffe auf Polizei, Militär, Schulen, Moscheen, Schreine, beliebte Märkte, politische Versammlungen, westliche Diplomaten und Hilfsarbeiter. Doch auch in der Bevölkerung ist ein militanter Anti-Amerikanismus inzwischen tief verwurzelt. Die Tötung von Al-Kaida-Chef Osama bin Laden in der beschaulichen pakistanischen Bergstadt Abbottabad hat die feindliche Stimmung gegen die USA noch verschärft. Die Situation ist verfahren.
Zentralasien im Visier?
Pakistan hängt mehr denn ja am Tropf Amerikas, das Millionen Dollar an Hilfsgeldern und Militärunterstützung ins Land pumpt. Die Wirtschaft des Landes ist im Sinkflug, in der größten Stadt Karachi kommen hunderte Menschen im Jahr bei Bandenkriegen und anderen blutigen Auseinandersetzungen ums Leben, Regierung und Militär werden täglich von militanten Islamisten vorgeführt. Die Sorge wächst, dass das 180-Millionen-Einwohner-Land außer Kontrolle gerät.
"Bemühungen, die Beziehungen zu Pakistan durch Hilfsgelder und Engagement zu verbessern, sind wegen der Differenzen zwischen Islamabad und Washington bei der Bekämpfung der Aufständischen überlagert worden", schreibt Daniel Markey vom amerikanischen Council on Foreign Relations. Optimisten glauben, der Abzug der USA aus Afghanistan könnte die Lage in Pakistan wieder beruhigen, andere sind der Meinung, dass die aufständischen Taliban längst eine ambitionierte politische Agenda verfolgen, die über Pakistan und Afghanistan hinausgeht und die bereits das rohstoffreiche Zentralasien im Visier hat.