Der russisch-amerikanischen Diplomatie steht ein heißer | Sommer bevor: Präsident Clinton ist es Anfang Juni in | Moskau nicht gelungen, seinen Amtskollegen Vladimir Putin von der Notwendigkeit einer Änderung des 1972 geschlossenen ABM Vertrags zu überzeugen. Eine Erweiterung dieses | Rüstungsabkommens wäre aber notwendig, um das SDI-Nachfolgeprojekt NMD ohne eine gröbere Verstimmung Moskaus durchführen zu können.
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Der Vertrag, der bisher erfolgreich in der Lage war, das "Gleichgewicht des Schreckens" dadurch aufrechtzuerhalten, dass sich die beiden Supermächte des Kalten Krieges dazu verpflichteten, ihr Territorium- trotz der technischen Möglichkeit von Gegenmaßnahmen- für angreifende Interkontinentalraketen "verwundbar" zu halten, ist mittlerweile zu einem zentralen Streitthema zwischen Russland und den USA geworden. Denn der Clinton-Administration schwebt seit einiger Zeit schon ein Abwehrprogramm (NMD) vor, das in der Lage sein soll, einen limitierten Angriff atomarer Langstreckenraketen abwehren zu können und sich damit klar im Widerspruch zum Vertrag von 1972 befindet. Obwohl Clinton auf Beschwichtigung setzt und seinem russischen Amtskollegen immer wieder versichert, dass sein Vorhaben das Abschreckungspotential des ehemaligen Gegners nicht schmälern würde, fürchtet man im Kreml die Ausweitung des amerikanischen Projekts, die dann sehr wohl Auswirkungen auf das strategische Potential der Russen haben könnte.
Diese Befürchtungen sind nicht ganz unbegründet: Denn vor allem in den Reihen der Republikaner finden sich viele, die den ihrer Meinung nach veralteten ABM-Vertrag lieber heute als morgen in den Mistkübel der Geschichte werfen würden und so schnell als möglich ein vielschichtiges System von Abfangraketen errichten würden.
Clintons Handlungsspielraum für politische und diplomatische Manöver ist gering, zumal er unter Zeitdruck steht. Denn das Pentagon machte bereits mehrfach klar, dass eine Entscheidung über den Startschuss für NMD spätestens diesen Herbst fallen müsste. Anderenfalls sei die Hoffnung, einen "Basisschild" bis 2005 errichten zu können, zu begraben. Clinton bleibt also nur noch der G8 Gipfel im Juli auf Okinawa und der Milennium-Gipfel der UNO im September, um Putin zu überzeugen.
Nach Angaben des Weissen Hauses richtet sich dieser Zeitplan nach der Einschätzung, dass Nordkorea in fünf Jahren - wenn nicht schon etwas früher - ein Raketensystem entwickelt haben wird, dass die USA erreichen kann. Zbiginiew Brzezinski, ein ehemaliger Sicherheitsberater des Weissen Hauses vermutet aber, dass vor allem innenpolitisches Kalkül hinter der plötzlichen Eile steht. Das Ziel des Zeitplans besteht seiner Meinung nach darin, Vizepräsidenten Al Gore noch vor den entscheidenden Wahlen zum Präsidentenamt von dem Vorwurf zu befreien, er würde sich weniger als sein republikanischer Rivale Bush darum kümmern, "Amerikanische Familien" zu schützen.
In der Zwischenzeit erheben auch in den USA immer mehr Kritiker ihre Stimme, die sich fragen, ob die Welt nach Inbetriebnahme von Clintons Wunschprojekt die Welt wirklich sicherer sein wird, ob es den realen Gefahren entgegentreten kann und ob das Vorhaben, das mit mehreren hundert Millionen Dollar veranschlagt wird, überhaupt funktionieren wird. Denn die Erinnerungen an Präsident Reagans abstruses "Star Wars"-Projekt, das sich als viel zu hoch gegriffen und technisch nicht machbar erwiesen hatte, ist in den Köpfen der Amerikaner noch zu präsent.
Die Befürworter von NMD verweisen immer wieder auf das neue strategische Umfeld hin, in dem sich die USA befänden. Vor allem die Proliferation von ballistischer Raketentechnologie und die Weitergabe von Know-how über die Herstellung biologischer, chemischer und nuklearer Massenvernichtungswaffen an - noch bis vor kurzem - als "Schurkenstaaten" bezeichnete Länder mache nämliche Vorgangsweise nötig. Auch wird von dieser Seite immer wieder betont, dass sich eine ungeschützte USA auch im Hinblick auf ihr internationales militärisches Engagement und bei der Beschützung seiner Verbündeten sowie bei der Verfolgung seiner internationalen machtpolitischen Interessen einem nicht vernachlässigbaren Nachteil aussetzen würden. Denn eine angreif- und damit erpressbare USA im Hinterkopf könnte diverse Aggressoren weltweit eher dazu verleiten, im Konfliktfall zur Gewalt zu greifen.
Die Frage ist nun, wie realistisch diese Einschätzungen sind. General Ronald Kandish, der im Pentagon das Raketenprogramm leitet, ist der Ansicht, dass mindestens zwanzig Länder weltweit Kurz- oder Mittelstreckenraketen besäßen, wobei "zwei Dutzend" diese auch mit Massenvernichtungswaffen bestücken könnten. Schuld an der Zunahme potentieller Atommächte seien Länder wie Nordkorea, die "Raketentechnologie an jeden verkaufen, der das Geld dafür hat".
Eine wirkliche Bedrohung entsteht allerdings erst dann, wenn die von den USA in diesem Zusammenhang so oft zitierten "Schurkenstaaten" in den Besitz von Langstreckenraketen gelangen, die die Kapazität haben, die USA zu erreichen. Die CIA schätzt, dass in den nächsten fünfzehn Jahren zusätzlich zu Russland und China nur Nordkorea und eventuell der Iran und der Irak dieses Ziel erreichen werden. Die Möglichkeiten anti-amerikanischer Staaten, eine derartige Technologie zu erwerben, sind in der Vergangenheit jedoch von westlichen Experten krass unterschätzt worden. Vor allem Nordkorea, das im August 1998 eine mehrstufige Rakete startete und die Welt in Erstaunen versetzte.
Der Einsatz einer solchen Technologie gegen die USA erscheint angesichts der drohenden Vergeltung selbstmöderisch und damit unwahrscheinlich. Manche US-Strategen verweisen aber darauf, dass so mancher Diktator in einer Extremsituation selbst einem Mindestmaß an Vernunft nicht zugänglich sein könnte.
NMD-Gegner halten diesen Argumenten entgegen, dass nukleare Attacken nicht zwangsläufig über weitreichende Raketensysteme erfolgen müssten. Ein Atomsprengkopf, beispielsweise in einem Lastkraftwagen in die USA eingeschmuggelt, könnte das Milliardenprojekt auf simple Weise wirkungslos machen.
Aber auch wenn der Gegner die Spielregeln, die das abgespeckte SDI-Nachfolgeprojekt vorgibt, einhält, ist die Frage der Funktionstüchtigkeit des Abwehrsystems keineswegs unbestritten. Bisherige Tests waren keineswegs in der Lage, diesbezügliche Zweifel zu entkräften. Die Verwendung von Atomsprengkopf-Atrappen könnte die amerikanischen Abfangraketen relativ leicht täuschen, lautet ein Untersuchungsergebnis der "Union of Concerned Scientists". Auch die Methode, die Raketensprengköpfe so zu konstruieren, dass sie sich im Laufe ihrer Flugbahn in viele kleine Bomben aufteilen, würde ein Abfangen unmöglich machen, so die amerikanischen Wissenschafter.
Das Festhalten Clintons an NMD hat allerdings schon jetzt weltweit für diplomatische Verstimmungen gesorgt. In Grönland befürchten lokale Politiker, dass die Errichtung einer Radarstation, die als Bestandteil des NMD-Plans vorgesehen ist, die weite und eisige Landmasse zu einem Ziel feindlicher Angriffe machen könnte.
In den NATO-Hauptstädten erwarten die für Sicherheit zuständigen Diplomaten eine Abspaltung der USA, die gedeckt von einen Atomschutzschild ihre europäischen Verbündeten im Ernstfall "im Regen stehen lassen" könnte.
China hat bereits angedroht, sein eigenes strategisches Rüstungsprogramm zu beschleunigen und sieht sich als als Hauptbetroffen der US-Ambitionen. Denn obwohl China nicht Mitglied des ABM-Vertrags ist, profitierte es bisher am meisten von den Beschränkungen im Bereich der Raketenabwehr. NMD könnte das chinesische Nuklearpotential mit einem Schlag wirkungslos machen und Peking eines wichtigen Faktors bei der Durchsetzung überregionaler Interessen berauben, so die Befürchtungen.