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Amerikas akademische Elite ist alarmiert: Erstmals seit 30 Jahren sinkt der Ausländeranteil an den Unis. Verantwortlich dafür sind die verschärften Visabestimmungen, die dem wissenschaftlichen Nachwuchs die Reise in die USA vergraulen.
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Im vergangenen Juli musste Xinhua Chen, ein Postdoktorand aus China, der ein Forschungsstipendium an der renommierten Harvard Medical School hatte, seine Arbeit kurz vor Abschluss unterbrechen und nach Peking fliegen, weil sein Vater gestorben war. Fünf Monate vergingen, bevor ihm die amerikanischen Behörden das Visum für die Rückkehr in die USA erneuerten. Sein Flugticket verfiel, während sich in Boston die Rechnungen stapelten und ein Laborkollege seine Forschungsarbeit zu Ende führte, weil sonst auch das Stipendium verfallen wäre.
Larry Summers, der Präsident von Harvard, beschwerte sich persönlich bei Aussenminister Colin Powell über die Schikanen, die ausländische Studenten und Gastdozenten erleiden, seit die USA ihre Einreisebestimmungen verschärft haben.
Xinhua Chen ist kein Einzelfall. Ähnliche Geschichten machen an Amerikas Hochschulen die Runde, und drei eben erschienene Berichte untermauern den Eindruck, dass die traditionell ausländerfreundlichen USA ihrem Ruf keine Ehre mehr machen.
Der "Council of Graduate Schools", eine Vereinigung von 450 höheren Bildungsanstalten, meldet einen Rückgang der Bewerbungen aus China und Indien um 45 bzw. 28 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und der Immatrikulationen um acht bzw. vier Prozent. Gemäss Jahresbericht des "Institute of International Education" ist 2003 der bisher stetig steigende Anteil ausländischer Studenten erstmals seit drei Jahrzehnten gefallen, und zwar um 2,4 Prozent.
Die "Nafsa: Association of International Educators" fand heraus, dass zwei Drittel der 25 Universitäten mit dem höchsten Ausländeranteil einen Rückgang verzeichnen. Einzige Ausnahme ist die University of Southern California, die eine Zunahme von sechs Prozent im Vergleich zum Vorjahr notiert.
Eine halbe Million Studenten kommen aus dem Ausland
Derzeit leben 580.000 ausländische Studenten und 190.000 universitäre Austauschbesucher in den USA. An der Spitze der Herkunftsländer stehen Indien, China, Japan, Südkorea und Taiwan - nicht gerade Nationen, die als Brutstätten von Terrororganisationen bekannt wären. Studenten aus Pakistan und Saudiarabien haben es noch viel schwerer, in die USA zu gelangen - was nicht verwunderlich ist.
Die restriktive Visapolitik wird übereinstimmend als Hauptgrund für den Rückgang genannt. Teils wird die Visaerteilung verweigert, häufiger indes verzögert, und viele können oder wollen die oft monatelangen Wartezeiten nicht in Kauf nehmen. Da einer der Terroristen vom 11. September 2001 mit einem Studentenvisum eingereist war, steht jetzt der gesamte akademische Nachwuchs aus dem Ausland unter Verdacht.
Bildungswillige werden vom Geheimdienst verhört
Ausländische Studenten werden in einem Computersystem registriert, Visabewerber in den Konsulaten ihrer Heimatländer einer Befragung unterzogen. Studenten der Natur- und Technikwissenschaften werden vom FBI und der CIA zusätzlich auf ihren Leumund überprüft. Konsulatsbeamte, denen die Visaerteilung obliegt, wissen, dass sie ihre Karriere riskieren, wenn sie bei einer Nachlässigkeit ertappt werden, dass ihnen aber nichts passiert, wenn sie übervorsichtig sind. Dass sie sich beim neugeschaffenen Department of Homeland Security rückversichern müssen, verlangsamt das Verfahren noch mehr.
Natürlich will niemand talentierte junge Forscherinnen und Forscher aus dem Ausland fernhalten, doch genau das ist der Effekt. So sei der Eindruck entstanden, schliesst Nils Hasselmo, Präsident der "Association of American Universities", die Vereinigten Staaten seien kein gastfreundliches Land mehr. Selbst prominente Besucher werden abgeschreckt. Als die University of Texas den südafrikanischen Autor und Nobelpreisträger J. M. Coetzee, einen ihrer einstigen Doktoranden, mit einer Feier ehren wollte, sagte der ab mit der Begründung, die Visaprozedur sei ihm zu mühselig.
Alternativen in Asien und bei Online-Universitäten
Der Entscheid, nicht in den USA zu studieren, wird dank neuer Alternativen erleichtert. China und Indien, zwei aufstrebende Mächte, auf welche die USA mittlerweile mit grösserem Interesse blicken als auf Europa, haben ihre bestehenden Universitäten massiv ausgebaut und neue errichtet.
Hochschulen in englischsprachigen Ländern wie Kanada, Grossbritannien, Australien und Neuseeland haben erfolgreich begonnen, potentielle Bewerber von US-Universitäten wegzulocken.
Die einzigen amerikanischen Bildungsanstalten, die ebenfalls profitieren, sind die online-Universitäten - nun werben sie damit, dass man bei ihnen ein US-Studium absolvieren kann, ohne seine Heimat verlassen zu müssen. Die Anfragen hätten um 40 Prozent zugenommen, meldete "Bisk Education", ein Unternehmen in Tampa, das in Zusammenarbeit mit fünf amerikanischen Universitäten Internet-Lehrgänge anbietet.
Gefahr des "Brain-Drain" von den USA ins Ausland
Amerikas Spitzenuniversitäten hielten sich immer zugute, die besten der Besten zu rekrutieren, von wo auch immer sie stammen. Die besorgniserregenden Zahlen haben die akademische Elite alarmiert. Wenn es so weitergeht, fürchtet der Kommentator Fareed Zakaria, ein gebürtiger Inder, werden die USA ihren Vorsprung in Wissenschaft und Technik verlieren.
Gemäss einer Dokumentation des "National Science Board" sind 38 Prozent aller Träger natur- und ingenieurswissenschaftlicher Doktortitel in Amerikas Wirtschaft im Ausland geboren, und mehr als die Hälfte aller Studenten der "harten" Wissenschaften sind Ausländer.
Doch die Folgen seien nicht nur von nationaler, sondern auch von weltpolitischer Bedeutung, warnt Joseph Nye, der Dekan der Kennedy School of Government in Harvard.
Er erinnert an die Debatte, die im Kalten Krieg unter Präsident Eisenhower anlässlich des akademischen Austauschs mit der Sowjetunion geführt wurde. Gegner argumentierten, die UdSSR würde Studentenvisa missbrauchen, um Industriespionage zu betreiben. Doch die 50.000 Russen, die von 1958 bis 1988 Amerikas Colleges und Universitäten besuchten, beschleunigten den Niedergang des Kommunismus; einer der ersten Austauschstudenten war Alexander Jakowlew, der Vater der Perestroika, der Michail Gorbatschow zum Reformer machte.
Amerikas Image nicht nur in der muslimischen Welt wäre es förderlich, wenn seine Türen offen blieben. Condoleezza Rice, der nun das für Visabestimmungen zuständige State Departement unterstellt ist, ist aufgefordert worden, die bürokratischen Missstände zu beheben. Als einstige Akademikerin in leitender Stellung in Stanford sollte sie für die Sorgen ihrer früheren Kollegen Verständnis haben, wird gehofft.