Washington - Mit gemischten Gefühlen betrachten die USA das Vordringen der Nordallianz in Afghanistan. Nicht nur die Tatsache, dass bisher eine politische Lösung für das Land noch in den Sternen steht, trübt die Genugtuung über die jüngsten militärischen Erfolge. Es mehren sich Berichte über Gräueltaten der Anti-Taliban-Koalition während des Vormarsches nach Süden.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 23 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Allein am vergangenen Wochenende, sind nach Berichten westlicher Beobachter in und um Mazar-i-Sharif 600 Menschen im Exekutionsstil getötet worden. Nach Angaben von Augenzeugen wurden auch unschuldige Familienmitglieder zu Dutzenden umgebracht.
Organisationen wie die in New York ansässige "Human Rights Watch" hatten schon zum Auftakt der US-Militäraktion öffentlich davor gewarnt, "blutrünstigen Kommandanten" der Nordallianz nicht noch zusätzliche Waffen in die Hand zu geben. Erinnert wurde an Vorfälle Ende 1999 und Anfang 2000 in einem von der Nordallianz kontrollierten Gebiet. Damals hatten Augenzeugen über Massenhinrichtungen von Paschtunen und anderen Taliban-Unterstützern, über Brandschatzungen und Plündereien berichtet.
Allen voran fällt in diesem Zusammenhang immer wieder der Name Abdul Rashid Dostum. Der zur usbekischen Minderheit gehörende ex-kommunistische General, der sich in einem "neuen" Afghanistan eine führende Rolle erhofft, ist als skrupelloser Machtmensch berüchtigt. Dostum wechselte in der Vergangenheit seine Verbündeten wie andere ihre Hemden. Er kämpfte erst mit den Sowjets, dann mit den Mudschaheddin, von denen er später einige aus Rivalität angeblich ermorden ließ. Während des Bürgerkrieges in den 90er Jahren war Dostum an der Zerstörung Kabuls beteiligt, bei der Zehntausende Zivilisten getötet wurden. Seiner Miliz werden auch zahllose Morde an nicht-usbekischen Zivilisten, Vergewaltigungen und Plünderungen zur Last gelegt.
In den USA wächst vor diesem Hintergrund die Sorge, dass sich die Nordallianz nicht im erhofften Maße kontrollieren lassen wird. Je mehr militärische Siege sie erringt, desto stärker könnte sie sich im Überschwang ihres Machtgefühls zu Bluttaten hinreißen lassen, meinte ein Regierungsbeamter. Berichte über Taliban-Kriegsgefangene, die wehrlos am Boden liegend erschossen und deren Leichen danach noch mit Gewehrkolben zu einer blutigen Masse geschlagen wurden, hätten die US-Regierung "verstört".
Das Weiße Haus versucht, sich aus der Affäre zu ziehen, indem es Unterstützungsbekundungen mit Appellen zur Einhaltung der Menschenrechte verbindet. Die USA würden mit ihren Freunden von der Nordallianz daran arbeiten, "dass Menschen mit Respekt behandelt werden", sagte Präsident Bush am Rande des Treffens mit Putin.
Die Beschwichtigungsversuche zielen nicht nur darauf ab, Partner in der Anti-Terror-Koalition, vor allem Pakistan, bei der Stange zu halten. Die USA fürchteten vielmehr, dass anhaltende Meldungen über Bluttaten von Nordalliierten es noch schwerer machen werden, die Paschtunen in die Bemühungen um eine Koalitionsregierung in Kabul einzubinden.