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Christiania, die größte Kommune der Welt, hat sich legalisiert und ist eine dänische Touristenattraktion geworden. Das war nicht immer so. Eine Zeitreise durch die selbsternannte "Freistadt".
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Im September 1971 besetzte eine Gruppe von Hippies und Linksaktivisten ein ehemaliges Militärgelände in Christianshavn, einem Stadtteil im Zentrum von Kopenhagen, und erklärte das 34 Hektar große Areal zur "befreiten Zone". Sie richteten die leer stehenden Gebäude her, die nach dem Zweiten Weltkrieg ungenutzt zuwucherten, und bauten Holzhütten an den Ufern des seebreiten Wehrgrabens.
Den eigentlichen Startschuss hatte Jacob Ludvigsen gegeben, Provokateur und Journalist, der in seiner Postille "Hovedbladet" ("Das Hauptblatt") das Areal als geöffnet ausgerufen hatte. "Das Ziel von Christiania ist das Erschaffen einer sich selbst-regierenden Gesellschaft. Unser Bestreben ist es, unerschütterlich in unserer Weltanschauung zu sein, dass psychologische und physische Armut verhindert werden kann", lautete das erste Leitbild der Besetzer, die sich als Protest gegen das Establishment verstanden - alles war möglich, doch bald nicht mehr alles erlaubt.
Basisdemokratie
Die neu entstandene Selbstverwaltung traf Entscheidungen nach dem basisdemokratischen Konsensprinzip. Die Autonomie brauchte ein Regelwerk, an das sich ein zutiefst antibürgerliches Völkchen zu halten hatte. Kein Diebstahl. Keine Gewalt. Keine Autos. Keine Abzeichen von Motorradclubs, Motorräder schon gar nicht. Weder Schusswaffen noch schusssichere Westen. Keine harten Drogen. Alles andere war zumindest toleriert, wenn auch vom Staate Dänemark nicht immer akzeptiert. "Wer sich nicht daran gehalten hat, stand bald in Unterhosen auf der Straße draußen", erinnert sich Jan, ein Siedler der ersten Stunde, der heute im "Cafè Nemoland" Teller wäscht. "Eine autonome Polizei haben wir nicht gebraucht", sagt er, "unsere Gremien regelten das."
Makrobiotische Läden und indischer Schmuck. Barfuß und Blaues Licht. Weiche Drogen störten jedenfalls lange niemanden. Und so lag Gras in der Luft, vor allem in der Pusher Street, dem Herzstück der Kommune, die sie "Greenlight District" nennen: Drogenhandel ist in Dänemark nie legal gewesen, 33 Jahre lang durften Haschisch und Cannabis hier dennoch an befestigten Ständen öffentlich verkauft werden - laut den Regeln der "Fristad Christiania" müsste für eine Abschaffung der Stände jeder Einwohner sein Einverständnis geben. Also nein.
Das Regelwerk gibt es im Touristenshop gleich am Eingang auch zu kaufen, als skurriles Souvenir, genau wie Sweatshirts und Kapuzenjacken, mit oder ohne kommunaler Fahne. Die ist rot mit drei gelben Punkten, die die i-Punkte in Christiania darstellen sollen. Angeblich fanden die ersten Hausbesetzer gelbe und rote Farbe in enormen Mengen vor, die verwertet werden wollte. Inzwischen gibt es längst auch einen kleinen Baumarkt im Gelände, in der ehemaligen Reithalle, wo recycelte Baumaterialien auf Abnehmer warten.
Christiania erstreckt sich über mehr als zehn Viertel, die Friedensarche heißen oder Löwenzahn, Milchstraße oder Prärie. Es gibt improvisierte Kinderspielplätze und viel Grün. Schnell geht hier keiner, das ist nicht gerne gesehen. Es ist ruhig dort, eine unwirkliche suburbane Idylle, mit Schilfgras und vielen Tragetüchern und Tattoos. Hobbit-Stimmung auf Dänisch. Herrenlose Flohmarktstände mit allerlei Altem, Prinzip Self Service. Gegrillt wird kommunal, unter einem aufblasbaren Globus, der zwischen ausgebleichten tibetischen Gebetsfahnen von einer Wäscheleine baumelt. Dahinter ein Fantasieland aus Baumhäusern, kirgisischen Jurten, alten Bootsschuppen, umfunktionierten Bunkern und spitzgiebeligen Häusern.
Die alten Kasernenhallen und die öffentliche Toilette sind voller Graffiti. Es gibt Kinderbetreuung und eine Konzerthalle, einen Skaterpark und ein Tonaufnahmestudio im Container. Wer ein einschlägiges Badeerlebnis sucht, begibt sich in das kommunale Badehaus, zahlt Eintritt und nutzt die Gemeinschaftsbürste. Hinein darf inzwischen jeder, denn "nackt sind wir doch alle gleich", wie Hans aus Jütland sagt, der immer noch keinen Wasseranschluss hat, aber dafür eine neue Satellitenschüssel.
Viele Christianiter arbeiten längst draußen, in Kopenhagen, hinter dem Schild "Hier betreten Sie die EU", wo sie auch ihre Autos parken, die sie drinnen gar nicht haben dürften. Dort, in der Fabriksstraße, werden wochentags Lastenfahrräder zusammengebaut und alte Öfen restauriert, von denen einige schon in Harry Potter-Filmen aufgetaucht sind. Hektisches Treiben ist nicht erkennbar, alles fließt, auch die Sozialhilfezahlungen, auf die rund 40 Prozent der Einwohner angewiesen sind. Zahlen lässt sich in dänischen Kronen oder in Lön ("Lohn"), der hiesigen Währung. "Ihr könnt uns nicht töten", ein Song der Flower Power Rockgruppe Bifrost, gilt seit 1976 als inoffizielle Hymne der Fristad. Dabei war von Töten nie die Rede.
Politik der Toleranz
Der dänische Staat ließ die Leute gewähren - zumal sie seit 1994 Steuern und Gebühren für Wasser, Strom und Müllentsorgung an das Verteidigungsministerium berappt haben, dem das Gelände noch immer gehörte. Fast tausend Menschen mit Gewalt zu vertreiben, die an einem Experiment für eine bessere Welt werkten, wäre weder politisch klug noch gewaltfrei durchführbar gewesen. Und so ließ man sie gewähren: Ein praktisches Auffangbecken für Gestrandete und Nonkonformisten, die teils schon in dritter Generation anders zu leben versuchen als andere. Angeblich wurde den Patienten nach der Entlassung aus der Psychiatrie nicht selten dazu geraten, in Christiania neu anzufangen, weil das gesellschaftliche Normalitätsgebot nirgends lockerer gehandhabt wurde als dort. Theoretisch zumindest. Denn Neuankömmlinge hatten erst ein Hearing vor dem Plenum zu überstehen, ehe sie sich ansiedeln durften.
Elf Regierungen kamen und gingen, die autonome Freistadt blieb. Das friedliche Nebeneinander endete 2001, als eine liberal-konservative Koalition die dänische Regierung übernahm. Die frühere Badmandstroedes-Kaserne - das Kommunengelände - liegt auf den historischen Wallanlagen der Stadt, die heute als eine der besterhaltenen Verteidigungslinien der Welt betrachtet werden. Raumplanerische Begehrlichkeiten waren in Kopenhagen bis zur Jahrtausendwende ohne Chance. Doch seither wurde der Stadtteil Christianshavn für Privatinvestoren und wohlsituierte Bobos zunehmend attraktiv, außerdem drohte der Drogenhandel auszuufern, organisierte Banden übernahmen zeitweise das Kommando in der Pusher Street.
Dort herrscht Fotografierverbot. Unmissverständliche Schilder im Meterabstand und in Plakatgröße lassen keinen Zweifel daran, dass das bunte Volk es dort ernst meint. "Weg mit der Kamera", weisen mich zwei kahlgeschorene Jungs eindrücklich darauf hin, dass ihre Kollegen hinter den Tresen mit dem vielen Gras nicht fotografiert werden wollen. Durchgehen ist erlaubt, rund 40 Shops auf 50 Metern, vorbei an Pot und Shit zu ausgeschilderten Fixpreisen, gemeinsam mit schlurfenden Teenagern mit haschroten Augen auf Schnäppchenjagd. Der süßliche Geruch der Joints liegt überall in der Luft. Schätzungen beziffern den Umsatz mit 150 Millionen Dollar jährlich. Seit 2004 ist der offene Verkauf verboten, aber geändert hat sich eigentlich nichts. "Wir werden den dänischen Staat überleben", gibt sich Thomas Ertmann, der Pressesprecher des Kollektivs, siegessicher.
Auf Razzien aller Art folgten erste Schleifungen von Gebäuden. Tränengas, Wasserwerfer und Molotow-Cocktails beendeten ein jahrzehntelanges beidseitiges Laissez-Faire. 2009 erhielt die Regierung das Recht auf Räumung des Geländes, 2011 wurde der Entzug der Selbstständigkeit Christianias bestätigt. Räumung oder Kauf, andere Optionen gab es keine mehr.
Die knapp tausend Christianiter gingen daraufhin auf den Kompromissvorschlag der Regierung ein, das Areal zu kaufen: Rund 10 Millionen Euro, die zum Großteil durch sogenannte "Volksaktien" abgedeckt werden sollten - Mitte Juli 2012 wurde damit mehr als die Hälfte beglichen, der Restbetrag wird über eine jährliche Miete abgestottert und das Areal an die Stiftung der Christianiter übertragen - Eigentum mit Grundbucheintragung hat nach wie vor keiner der Bewohner. Nur die denkmalgeschützten Bereiche bleiben Staatsbesitz. Ein heikles Thema, wie das Wirtschaftsbüro der Kommune verlauten lässt: Man müsse mit diesen Aktien neue Märkte erschließen, Merchandising betreiben - ein emotionales Thema, es rieche nach Geldmacherei.
Touristenattraktion
"Gehen Sie nicht als Tourist nach Christiania", schrieb der Fotograf Mark Edwards 1980 in seinem Buch "Christiania - Versuche, anders zu leben", "Sie werden sich unbehaglich und fehl am Platz fühlen und nichts erfahren".
Die Besucher von Kopenhagen sind seinem Ratschlag allerdings nie gefolgt. Angeblich gehört die Fristad zu den fünf beliebtesten Attraktionen der Hauptstadt: Rund eine Million Touristen passieren jährlich den Torbogen mit der Aufschrift "Sie verlassen jetzt die EU". "Christiania passt ausgezeichnet zu unserem Image", sagt auch Peter Hansen, Direktor des Marketingbüros "Wonderful Copenhagen". "Wir wollen als menschliche, nicht allzu förmliche Stadt bekannt sein." Mittlerweile kommen, zumindest tagsüber, sogar Schulklassen auf Besuch. Am Wochenende gibt es geführte Touren durch das einstige Hippie-Homeland.
Eigentlich ist Kopenhagen längst mindestens so grün wie Christiania. Recyling ist in ganz Dänemark normal geworden. Und längst finden sich auch in Christiania bürgerliche Enklaven wie das "Spiseloppen", mit internationaler Küche und deftigen Preisen. Die Tische auf einer Seite des lang gezogenen Raumes sind eigentlich für Christianiter reserviert. Doch die kommen kaum noch hierher. Die Ideologen und Aktivisten von früher sind fortgezogen, alt geworden oder beides. "Heute zahlen wir doppelt soviel für halb so viel Freiheit", sagt Lykke, selbsternannter Anarchist und Archivar der Kommune. Zumindest süß riecht es trotzdem.
Günter Spreitzhofer, geb. 1966, ist Lektor am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien; Schwerpunkte: Asien, Tourismus, soziokulturelle Transformation.