Zum Hauptinhalt springen

Utopie soll Quantensprung werden

Von Heike Hausensteiner

Europaarchiv

Vor dem entscheidenden Verfassungsgipfel, der heute, Freitag, in Brüssel beginnt, herrscht in der Europäischen Union Hochspannung. Werden sich die 15 Mitgliedsstaaten und die 10 am 1. Mai 2004 beitretenden Länder zu einer Einigung durchringen? EU-Politiker und Staats- und Regierungschefs warnten gleichermaßen vor einem Scheitern der Verhandlungen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wer klug taktiert, pokert erfolgreich und gewinnt am Ende. Das haben das Kartenspiel und die Politik gemeinsam. Als politische Verhandlungsmethode ist die Vetodrohung sehr beliebt - so auch in der Debatte um die EU-Verfassung, die einstimmig beschlossen werden muss. Länder, die geplante Bestimmungen zu beeinspruchen drohen, wollen sich letztlich ihre Zustimmung "abkaufen" lassen durch Zugeständnisse in anderen Bereichen.

Zugeständnisse abkaufen

Im spanisch-polnischen Streitfall etwa um die Machtverhältnisse im Rat (die "Wiener Zeitung" berichtete, siehe auch Kasten unten) gibt es mehrere Pfandmöglichkeiten. Gehen Madrid und Warschau von ihrem Widerstand gegen den neuen Abstimmungsmodus im Rat ab, könnten die beiden Länder dafür beispielsweise mehr Sitze im Europäischen Parlament bekommen. "Entschädigt" werden könnten sie auch, indem man ihnen weiterhin zwei Kommissare zugesteht, wurde als weitere Idee ventiliert.

Das würde freilich dem Anspruch nach mehr Effizienz in der EU, die die neue Verfassung schaffen soll, widersprechen. Der Konvent hatte eine Verkleinerung der Kommission auf 15 stimmberechtigte Kommissare vorgeschlagen. Dagegen verwehren sich aber die kleineren Mitgliedstaaten, die an dem Prinzip "ein stimmberechtigter Kommissar pro Land" festhalten wollen.

Möglich ist auch, dass Spanien und Polen im Rahmen der regionalen Förderung durch zusätzliche Finanzhilfe besänftigt werden. Die Verhandlungen über die neue EU-Finanzperiode ab 2007 und die Verfassungsdebatte seien "zwei Seiten einer Medaille", hat Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schröder immer wieder betont. Denkbar ist weiters, dass der Spanier Javier Solana erster EU-Außenminister wird. Er war bisher lediglich "Beauftragter" der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Keine faulen Kompromisse

Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel sprach sich denn auch vor der Abreise nach Brüssel gegen "faule Kompromisse" beim Verfassungsgipfel aus. Was vor Jahren viele noch als "Utopie" bezeichnet hätten, sei nunmehr "ein Quantensprung in der europäischen Rechtsordnung", lobte Schüssel die erste EU-Verfassung. Er hob den darin verankerten Grundrechtskatalog, die eigene Rechtspersönlichkeit und den neuen Außenminister der Union besonders hervor. Außerdem werde das Europäische Parlament zu einem "vollwertigen Parlament" mit Budgethoheit aufgewertet, während es erst "vor wenigen Jahrzehnten" nur als einfache Versammlung eingerichtet wurde.

Einigung möglich

In der Frage der Stimmengewichtung im EU-Rat sprach sich Schüssel gegen ein Verschieben der Entscheidung aus. "Das wäre die wesentlich schlechtere Lösung." Schüssel unterstrich neuerlich die österreichische Position in Bezug auf die Kommission, wo weiterhin alle Mitgliedsländer mit einem stimmberechtigten Kommissar vertreten sein sollten. "Es geht nicht primär um Machtfragen", beteuerte der Bundeskanzler. "Europa lebt nicht davon, wie man etwas verhindert, sondern wie man etwas bewegt." Den Verhandlungen in Brüssel wollte Schüssel nicht vorgreifen. Eine Einigung sei jedenfalls möglich, "wenn man will". Die Zukunft könne man nicht voraussehen, sondern nur möglich machen, zitierte Schüssel den französischen Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry.

In Sachen EU-Verteidigungspolitik lobte Außenministerin Benita Ferrero-Waldner den von der italienischen EU-Präsidentschaft vorgelegten entschärften Vorschlag zur Beistandspflicht als "Weiterentwicklung". Wie berichtet, hält die Kompromissformel an der ursprünglichen Formulierung der gegenseitigen Beistandspflicht fest; hinzugefügt wurde jedoch: "Das berührt nicht den spezifischen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedsstaaten." In Anspielung auf den von Österreich, Finnland, Schweden und Irland geleisteten Widerstand meinte Ferrero-Waldner, "hätten wir keinen Vorschlag gemacht, hätte sich nichts bewegt".

Abschluss wäre "Wunder"

Indes zeigte sich der italienische Premier und EU-Ratsvorsitzende Silvio Berlusconi pessimistisch in Bezug auf einen Verhandlungsabschluss am Wochenende. Es wäre ein "Wunder, wenn die Regierungskonferenz noch unter italienischer Ratspräsidentschaft abgeschlossen" werde. Es sei nämlich noch nie eine Regierungskonferenz unter dem Vorsitz eines Landes eröffnet und abgeschlossen worden, erklärte Berlusconi bei seiner Ankunft in Brüssel. Einen späteren Gipfelbeschluss zog auch Kommissionspräsident Romano Prodi in Erwägung. Unterdessen erneuerte Polen seine Veto-Drohung gegen den Verfassungsentwurf. Deutschlands Außenminister Joschka Fischer warnte vor einem Scheitern.

Auch Wirtschaftspolitik

Eröffnet wird das Brüsseler Gipfeltreffen mit dem traditionellen halbjährlichen Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs am Freitag. Dabei sollen die von der Kommission vorgeschlagenen 59 Infrastrukturprojekte verabschiedet werden. Die eigentliche Regierungskonferenz zur Verfassung beginnt am späten Freitagnachmittag und ist offiziell bis Samstag anberaumt. Das tatsächliche Ende ist sowohl aus inhaltlicher als auch aus zeitlicher Sicht offen.

Cartoon: Gepp