Zum Ende seiner Amtszeit hat der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina ein Verbot der Leugnung von Völkermord durchgesetzt. Im Interview spricht Valentin Inzko über gesellschaftliche Katharsis und Ratschläge an seinen Nachfolger.
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Er war länger im Amt als seine sechs Vorgänger zusammen. Zwölf Jahre war Valentin Inzko Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, von der internationalen Staatengemeinschaft mit der Friedensimplementierung in einem Land beauftragt, in dem nationalistische Politiker - etwa im Landesteil Republika Srpska - immer wieder versuchen, die Gesellschaft zu spalten. Die Funktion, die Inzko am Sonntag an den deutschen Politiker Christian Schmidt übergibt, ist mit einigen Vollmachten verknüpft: Der Hohe Repräsentant kann Politiker entlassen, Gesetze aufheben oder erlassen.
Inzko hat das zum Ende seiner Amtszeit genutzt, für ein Anliegen, das er schon lange hatte: Er hat ein Verbot der Leugnung oder Glorifizierung von Völkermord durchgesetzt. Wer öffentlich Genozid - wie jenen in Srebrenica, bei dem 1995 mehr als 8.000 Männer und Buben mit muslimischen Namen ermordet wurden - leugnet, dem drohen bis zu fünf Jahren Haft. Auch wer zu Gewalt oder Hass gegen Personen wegen ihrer Rasse, Religion oder ethnischen Herkunft aufruft, kann bestraft werden.
"Wiener Zeitung": Nach dem Erlass des Verbots der Völkermord-Leugnung haben die bosnischen Serben prompt angekündigt, die wichtigsten staatlichen Institutionen zu boykottieren. Was bedeutet das für die ohnehin fragilen Strukturen des Landes?
Valentin Inzko: Der Boykott ist differenziert. Die Serben werden an diversen Sitzungen teilnehmen, sie werden aber nicht abstimmen. Wir werden sehen, wie sie sich bei wichtigen Angelegenheiten verhalten werden - etwa bei den Budgetdebatten. Es geht dabei ja auch um ihre Gehälter. Dennoch ist es bedauerlich.
Ich habe mir Regelungen in verschiedenen Ländern angesehen, von Russland bis Kanada. Überall ist die Glorifizierung von Kriegsverbrechern verboten. In Österreich gibt es etwa das Wiederbetätigungsgesetz. Es ist bedeutsam, solche Gesetze zu haben. Auch wenn sie manchmal gebrochen werden, geht es um eine Orientierung. Es gibt keine schlechten Völker und keine Kollektivschuld. Aber es gibt eine Individualschuld. Das Gesetz ist nicht gegen die Serben gerichtet, es kann jeden betreffen.
Dennoch gibt es gerade in der Republika Srpska, auch auf höchster Politikerebene, die meisten Übertretungen - öffentliche Aussagen, meterhohe Wandmalereien zur Verherrlichung von Ex-General Ratko Mladic, Gedenktafeln für den ehemaligen Präsidenten Radovan Karadzic. Beide sind verurteilte Kriegsverbrecher.
Ich habe das Parlament in der Republika Srpska schon im Jänner gebeten, die Ordensverleihung an drei rechtskräftig verurteilte Kriegsverbrecher zu annullieren. Das ist nicht geschehen. Es wurde nicht nur nicht zurückgenommen, sondern die ursprüngliche Entscheidung wurde bekräftigt. Wäre es anders gekommen, gäbe es vielleicht kein Völkermord-Dekret. Hinzu kam, dass Mladic Anfang Juni rechtskräftig verurteilt wurde, so wie Karadzic 2019. Davor konnte ich nicht agieren.
Haben Sie deswegen so lange gezögert, diese Regelung durchzusetzen?
Das ist einer der Gründe. Aber ich wollte auch eine lokale Lösung ermöglichen, dass es im Parlament beschlossen wird. Doch mehrere Versuche sind gescheitert.
Wie realistisch scheint da die Umsetzung des Gesetzes?
Ich mache mir zunächst keine Illusionen. Anfangs wird es vielleicht sogar zu einem Anstieg von Glorifizierungen von Kriegsverbrechern kommen. Umgekehrt ist gerade das Wandgemälde von Ratko Mladic in der ostbosnischen Stadt Foca bereits übermalt - passiert ist das einen Tag, nachdem ich das Gesetz unterschrieben habe. Ich denke, dass es nach dem Ansteigen zu einem Abflachen kommen wird. Denn die Strafen sind hoch. Es bringt ja auch niemandem etwas, zu behaupten, Mladic war kein Kriegsverbrecher, sondern ein Held. Das ist lediglich ein Justament-Standpunkt. Und es ist schade. Denn Serben könnten stolz sein auf Nikola Tesla, auf ihre Schriftsteller oder erfolgreichen Landsleute im Ausland. Schulen und Studentenheime könnten ja auch nach (dem Literatur-Nobelpreisträger) Ivo Andric benannt werden statt nach Karadzic.
Für die Opfer, für ein tief verwundetes Land, in dem so gut wie jede Familie im Krieg jemanden verloren hat, bedeutet die Glorifizierung von Kriegsverbrechen zusätzlichen Schmerz. Sie haben in diesem Zusammenhang von einer chronisch kranken Gesellschaft gesprochen. Wird Ihr Dekret zur Heilung beitragen?
Ich habe oft betont, dass für mich die Bestrafung nicht das Wichtigste ist. Für mich wäre das Wichtigste eine Katharsis, dass die Menschen beginnen umzudenken. Dass sich Schulkinder nicht mehr vor dem Porträt von Ratko Mladic fotografieren, sondern sich fragen: Was war da los?
Menschen wählen aber noch immer nationalistische Politiker, die etwa in der Republika Srpska regelmäßig Sezessionsideen wälzen und nach Volksgruppen unterscheiden. Wie ist da eine Katharsis möglich?
Es gibt auch andere Beispiele. In Mostar, Sarajevo und Banja Luka sind neue Politikertypen an die Macht gekommen. Die klassischen Parteien haben verloren. In manchen Städten gibt es nun Bürgermeister, die Neues verheißen. Außerdem gibt es bosnische Minister quer durch Europa: von Alma Zadic in Österreich bis zu Aida Hadzialic in Schweden, die im Alter von 27 Jahren Ministerin wurde. Wenn solche Talente hier zum Einsatz kämen, dann hätten wir ein anderes Bosnien-Herzegowina.
Leider sehen eben viele mehr Perspektiven für sich im Ausland.
Ja, es sind hunderttausende Menschen. Sie wollen in einem Rechtsstaat leben.
Dieser sollte auch in Bosnien-Herzegowina etabliert werden, und das Büro des Hohen Repräsentanten sollte dazu beitragen. Was ist in den zwölf Jahren seit Ihrem Amtsantritt passiert?
Eine meiner Aufgaben war, staatliche Institutionen zu verteidigen. Es gab unter anderem Angriffe auf die Zentralbank, den Verfassungsgerichtshof, aus dem Politiker die drei europäischen Richter entfernen wollten, und auf die staatliche Steuerbehörde sowie Staatseigentum allgemein. Die Republika Srpska hat gemeint, dieses gibt es nicht, alles in ihrem Gebiet gehört allein der Republika Srpska. Die staatlichen Institutionen sind geschwächt worden, und ich hoffe, dass mein Nachfolger einen neuen Weg beschreiten wird. In den vergangenen zwölf Jahren haben wir stark auf Eigenverantwortung gesetzt, doch die internationale Gemeinschaft muss jetzt wohl wieder robuster auftreten.
Ich habe mir am Anfang mehr erwartet. Mir waren aber auch die Hände gebunden. Als ich nach Sarajevo gekommen bin, war der internationale Plan, das Büro überhaupt zu schließen. Das haben selbst europäische Länder gefunden. Ich konnte das Amt aber erhalten. Und es ist mir gelungen, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Interesse für Bosnien-Herzegowina wachzuhalten, obwohl es ältere und neuere sowie größere Konflikte gibt.
Hat die internationale Gemeinschaft Bosnien-Herzegowina vergessen? Hat die EU das Land vergessen?
Die europäische Perspektive wurde den Westbalkan-Ländern 2003 gegeben. Wenn Bosnien-Herzegowina in zwölf Jahren der EU beitreten würde, wären 30 Jahre vergangen. Doch viele Menschen sind nicht mehr bereit, 30 Jahre zu warten. Für sie ist Europa Deutschland oder Österreich - und sie wollen es sofort. Daher sind bereits mehr als eine halbe Million Menschen in den vergangenen Jahren ausgewandert. Und etliche sind dort auch sehr erfolgreich.
Wir müssen nicht nur Bosnien-Herzegowina europäisieren, sondern auch etwas vom bosnischen Geist nach Europa transportieren. Es gibt hier viel Wärme, Gastfreundschaft, auch - noch immer - religiöse Toleranz. Etwas Heiliges ist zum Beispiel die Nachbarschaft: In Westeuropa wird beim Hauskauf auf die Lage geschaut, hier auf die Nachbarn.
Worauf sollte sich Ihr Nachfolger konzentrieren? Haben Sie Ratschläge für ihn?
Drei: Rechtsstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit. Damit fängt alles an, das ist die Grundlage für einen Staat. Damit - oder dem Mangel - ist alles andere verbunden: gefälschte Diplome und staatliche Ausschreibungen, Beschäftigungspolitik und Privatisierung. Das ist der schwache Punkt: Ein Abgeordneter kann gekauft, eine Ausschreibung gefälscht werden. Gerade ist der vierte Oberstaatsanwalt suspendiert worden, wegen diverser Unregelmäßigkeiten. Das wissen die Leute und haben kein Vertrauen in die Institutionen.
Valentin Inzko ist ein österreichischer Diplomat, der 2009 zum Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina ernannt wurde. Zuvor war der Jurist unter anderem Leiter der OSZE-Mission in Serbien, sowie Botschafter in Sarajevo und Ljubljana.