Zum Hauptinhalt springen

Vatikan-Krimi vor Lösung?

Von Heiner Boberski

Europaarchiv

Kirchenstaat tritt Vorwürfen entgegen, er habe bisher Ermittlungen behindert.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Rom. Noch im Mai soll in Rom das Grab des berüchtigten Bandenchefs Enrico de Pedis geöffnet werden. Die Behörden hoffen, dass damit Licht in einen seit fast 30 Jahren ungeklärten Entführungsfall kommt: Am 22. Juni 1983 war die damals 15-jährige Emanuela Orlandi nach dem Besuch einer Musikschule spurlos verschwunden. Da sie als Tochter eines Angestellten des päpstlichen Hauses die zu diesem Zeitpunkt jüngste Bürgerin des Vatikanstaates war, erregte der Fall besonderes Aufsehen.

Rätselhafte Anrufe und Briefe deuteten darauf hin, das Mädchen könnte entführt worden sein, um den Türken Ali Agca freizupressen, der am 13. Mai 1981 auf dem Petersplatz das fast tödliche Attentat auf Papst Johannes Paul II. verübt hatte. Das könnten aber auch Ablenkungsmanöver gewesen sein. Agca verweigerte jedenfalls damals einen Austausch, behauptete aber später, er wisse, dass Emanuela von einer mächtigen Organisation entführt worden und noch am Leben sei.

Doch seit dem Jahr 1983 gibt es weder von Emanuela Orlandi noch von Mirella Gregori, einem etwa gleichaltrigen römischen Mädchen, das schon am 4. Mai 1983 spurlos verschwunden ist, ein Lebenszeichen. Weil Mirella Gregori angeblich mehrmals mit dem Vizechef der päpstlichen Polizei, Raoul Bonarelli, gesehen worden war, wandten sich die italienischen Ermittler auch an den Vatikan, kamen dabei aber nicht weiter und erhoben schwere Vorwürfe: Der Vatikan habe trotz mehrerer Rechtshilfeanträge keine Bereitschaft gezeigt, bei der Aufklärung der Entführungsfälle zu kooperieren und Informationen über seine direkten Kontakte mit den Entführern preiszugeben.

1994 äußerte Vincenzo Parisi, Vizechef des italienischen Geheimdienstes "Sisde": "Es hat zahlreiche Vertuschungsmanöver von Seiten des Heiligen Stuhls gegeben, gezielte Desinformationen bis hin zu offener und gewollter Irreführung der italienischen Ermittler."

Magliana-Bande soll hinter der Entführung stehen

In den letzten Jahren haben sich die Indizien verdichtet, dass Emanuela Orlandi von der kriminellen "Banda della Magliana" entführt wurde, deren Boss damals Enrico de Pedis war. Im letzten Anruf vor ihrem Verschwinden hatte Emanuela ihrer Schwester mitgeteilt, ihr sei der Job angeboten worden, für eine Kosmetikfirma Werbung zu verteilen. Die Ex-Freundin von De Pedis, Sabrina Minardi, hat 2008 ausgesagt, das Mädchen im Auftrag ihres Lebensgefährten in ihr Auto gelockt zu haben. Emanuela sei erst gefangen gehalten und dann ermordet worden. Die Leiche habe man in eine Betonmischmaschine in Torvajanica südlich von Rom geworfen. Derzeit ermittelt die Polizei gegen den damaligen Chauffeur und zwei weitere Vertrauenspersonen des 1990 auf offener Straße erschossenen Bandenchefs.

Erzbischof Marcinkus

im Zwielicht

Dass die Magliana-Bande die Entführung verübte, hat Antonio Mancini, ein ehemaliges Mitglied der Bande, 2011 bestätigt. Das Motiv soll gewesen sein, die Vatikanbank zur Rückgabe von Geld zu zwingen, das De Pedis und seine Komplizen dort angelegt hatten. Die Aussage Sabrina Minardis, die wahren Schuldigen an der Entführung säßen "im Vatikan", namentlich trage der 2006 verstorbene frühere Chef der Vatikanbank, Erzbischof Paul Marcinkus, Verantwortung, wurde vom Vatikan als "infam und unbegründet" zurückgewiesen. Vatikan-Pressesprecher Federico Lombardi betonte jüngst wieder, der Vatikan habe nichts zu verbergen. Deshalb werde er auch ermöglichen, das Grab von Enrico de Pedis in der römischen Basilika Sant’Apollinare zu untersuchen.

Emanuelas Bruder Pietro hatte unlängst vor dieser Basilika nahe der Piazza Navona demonstriert, um die Öffnung des Grabes zu erreichen. Manche vermuten darin die Leiche seiner Schwester. Dass ein Krimineller wie Enrico de Pedis erst auf einem Friedhof bestattet wurde, aber dann in diese Basilika umgebettet werden durfte, in der sonst nur Bischöfe und Kardinäle ihre letzte Ruhestätte finden, sieht für viele wie ein seltsamer Deal zwischen den Verbrechern und der Kirche aus.

Sollte sich im Grab freilich nicht Emanuelas Leiche oder ein Hinweis auf ihr Schicksal finden, wird weiter offen bleiben, ob sie noch heute, 44 Jahre alt, am Leben ist oder ihre sterblichen Überreste wahrscheinlich unauffindbar in eine römische Vorstadtsiedlung eingemauert sind.