Chávez wird am Donnerstag wegen Krankheit wohl nicht vereidigt.
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Rio de Janeiro/Caracas. Was geht in Venezuelas Armee vor? Wenn man diese Frage in Caracas stellt, zucken die meisten Politikbeobachter mit den Schultern. Welche Flügel welche Ansichten vertreten, wie stark sie sind, ob es zu Konflikten kommt, darüber könne man kaum mehr als spekulieren, sagen sie. Das Militär sei eine eigene Kaste, ein schwarzes Loch, der große Unbekannte. Dabei liegt es auf der Hand, dass das Militär spätestens seit 2002 stets der zweitwichtigste Machtfaktor im chavistischen Venezuela war. Noch mehr Macht hat nur Hugo Chávez. Doch der Präsident liegt nach einer Krebsoperation und einer schweren Lungenentzündung in einem Spital auf Kuba und wird es wohl nicht schaffen, morgen, Donnerstag, planmäßig für eine weitere Amtszeit vereidigt zu werden.
Das allgemeine Unwissen über das Militär kontrastiert stark mit dessen Präsenz in der venezolanischen Gesellschaft. Drei der Minister sind Offiziere. Elf der 20 Gouverneursposten, die die Regierungspartei bei den Wahlen im Dezember erobert hat, werden von Politikern bekleidet, die von Beruf Soldaten sind. Offiziere führen Staatsbetriebe und Großfarmen, sie leiten die Verteilung von Lebensmitteln und sind in den über zwei Dutzend Sozialprogrammen aktiv, die die Regierung Chávez aus der Taufe gehoben hat.
2002 wurde der demokratisch gewählte Chávez Opfer eines Rechtsputsch-Versuches. Der Präsident, selber Berufsoffizier, verdankte sein politisches, vielleicht auch physisches Überleben den Offizieren, die treu nicht nur zu ihm, sondern zur Verfassung standen. Als er wieder fest im Sattel saß, tat er, was wohl jeder in seiner Lage getan hätte: Er stellte alle kalt, die es an Loyalität hatten fehlen lassen.
Je autokratischer sein Regierungsstil wurde, desto mehr sollte sich die Loyalität auf ihn einfluchten und weniger auf die Verfassung. General Raúl Isaías Baduel, der Chávez damals mit befreit hatte, wurde, obwohl er es 2006 bis zum Verteidigungsminister brachte, als Verräter gebrandmarkt, weil er sich ein Jahr später öffentlich gegen Verfassungsänderungen aussprach, die Chávez mehr Macht geben sollten.
Offiziere als Gemüsebauern
2004 hob Chávez die "misiones" aus der Taufe, Sozialprogramme, die parallel und zusätzlich zu den eigentlich zuständigen Ministerien entstanden und seine Popularität im Volk begründeten. Während für die Finanzierung der staatliche Öl-Konzern PdVSA zuständig war - ein weiteres, genauso schwarzes Loch -, wurde die Armee zunächst zu logistischen Hilfsdiensten verpflichtet, zum Beispiel zur Beschickung und Organisation von subventionierten Nahrungsmittel-Märkten.
Aber je mehr Fabriken und Farmen verstaatlicht wurden, desto mehr Offiziere wurden als Betriebsleiter und Geschäftsführer aktiv. Was nicht immer gut geht. Offiziere verstehen zum Beispiel nicht unbedingt viel von Gemüseanbau, und so wurde in riesigen Treibhaus-Komplexen überall gleichzeitig gesät und folglich auch gleichzeitig geerntet, während in der Zeit dazwischen hunderte Arbeiter Däumchen drehen.
Während sich für die Soldaten durch ihren Dienst am Volk der sozialistische Charakter konkretisiert, den Chávez der Armee zugewiesen hat, durchdringt umgekehrt das Militär die Zivilgesellschaft und übernimmt nach und nach Aufgaben, die früher das nun ausgebremste Privatkapital erfüllt hat. Für Chávez kam das seinen Vorstellungen nahe, wie Wirtschaft und Gesellschaft funktionieren sollten: Durch Weisung und Befehl von oben, durchgeführt von einer als neutral verstandenen Instanz wie dem Militär, das angeblich über den normalen Konflikten und Verteilungskämpfen der Gesellschaft steht.
Militär rüstete stark auf
In der Praxis führt die Truppe ein Eigenleben ohne Kontrolle. Immer wieder werden Vorwürfe laut, Offiziere hätten sich schwer bereichert und viele von ihnen stehen bei den US-Behörden im Verdacht, aktiv im Drogenschmuggel mitzumischen. Chávez hat in seinen 14 Jahren kräftig aufgerüstet. Nach russischen Schätzungen hat Venezuela in den letzten Jahren 15 Milliarden Dollar für Waffen ausgegeben, angefangen von 100.000 Kalaschnikow-Gewehren und der dazugehörigen Munitionsfabrik über moderne Schützenpanzer bis hin zu Jagdflugzeugen, Hubschraubern und Luftabwehrsystemen.
Dem angesehenen Menschenrechtsverband Provea zufolge war im Staatshaushalt 2012 doppelt so viel Geld für den Verteidigungshaushalt angesetzt wie 2011, und zwar zulasten der Sozialausgaben. Entgegen dem Ruf, den das linke Venezuela pflegt, formuliert Provea: "Der Kampf gegen die Armut gerät ins Stocken, während die Militärausgaben wachsen."