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Venezuela: Opposition wittert Morgenluft

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Kunath

Politik

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Caracas. "Hier bauen wir eine Stadt hin!", rief Hugo Chávez aus, als er mit dem Helikopter über das karge Bergland hinweg flog. Nach Norden hin fällt es steil ab zur Karibikküste, von der die Nebelfetzen hochziehen, im Süden fressen sich schon die Elendsviertel von Caracas über die Hügelkuppen. Dazwischen, auf den durch tiefe Täler getrennten Bergrücken, entsteht nun Ciudad Caribia. 18.000 Wohnungen für 88.000 Menschen, mit Sportplätzen und Schulen, Kirchen und Kindergärten, Geschäften und Fabriken - es ist eine dieser stets beklemmenden Reißbrett-Utopien, die eher in die Mitte des 20. als an den Anfang des 21. Jahrhunderts passen.

Dass Caribia seine Existenz tatsächlich einem Gedankenblitz von Comandante Chávez verdankt, ist zwar nicht verbürgt, aber auch nicht ausgeschlossen. Denn der Präsident kümmert sich auch um kleinere Details als den Bau einer Musterstadt. Er bestellt und bestimmt, verfügt und verordnet, beauftragt und befiehlt von früh bis spät, und seine Minister müssen kuschen und huschen. So ein Regierungsstil mag autokratisch sein. Aber er hat den unschätzbaren Vorteil, dass die, die davon profitieren, am Wahltag genau wissen, bei wem sie sich zu bedanken haben.

"Am 7. Oktober gebe ich natürlich meinem Comandante die Stimme", sagt Marlene Delgado wie aus der Pistole geschossen, "ein anderer Präsident hätte das hier nicht gemacht." Bei den verheerenden Regenfällen Ende 2010 fiel ihr Haus zusammen, sie lebte mit ihren drei Kindern monatelang im Provisorium, und vor einem Jahr zogen sie in Ciudad Caribia ein. Wohnblock 17, Erdgeschoß: drei Schlafzimmer, Küche, zwei Bäder und ein Wohnzimmer, durch dessen Fenster die 54-Jährige Cola und Chips, Seife und Klopapier, Maizena und Zucker verkauft.

"Chévere" sei es hier, sagt die Mutter, und auch die 32-jährige Tochter Carmen findet es "wunderbar". Zumal die Wohnung, ohnehin praktisch zum Nulltarif, bestens ausgestattet ist. Herd, Waschmaschine, Mikrowelle gehören zum Wohlfahrts-Paket "Mein gut ausgestattetes Heim", für das die Regierung in China Haushaltsgeräte einkauft und verschenkt, für eine Milliarde Dollar.

Sozialwohnungen als Wahlkampf-Zuckerl

Caribia, zu etwa einem Fünftel fertig, ist das Paradestück eines riesigen Wohnungsbau-Programms, das Chávez Anfang 2011 aus der Taufe hob. Regen hin, Regen her, damit wollte er seinen Erfolg von 2004 wiederholen. Denn damals, so räumte er später selber ein, wäre er abgewählt worden, wenn er nicht die Misiones erfunden hätte, milliardenschwere Sozialprogramme, die aus den Öleinnahmen finanziert werden. 34 solche Programme, stets propagandistisch begleitet, sind bisher aufgelegt worden. Und sollte Chávez am 7. Oktober für eine vierte Amtszeit gewählt werden, wie die Umfragen voraussagen, dann dank "Gran Misión Vivienda", die bis 2019 zwei Millionen Wohnungen zu schaffen verspricht.

Dennoch hatte die Opposition nie bessere Chancen als jetzt. Nach 14 Jahren ist die Linksregierung des krebskranken Chávez verbraucht, ihre Bilanz fällt dürftig aus. Die erste Sorge der Bürger, auch der chavistischsten, gilt der Kriminalität, die Mordrate hat sich unter Chávez verdreifacht. Die staatlich gelenkte Wirtschaft läuft nicht gut, ein mehrfach gespaltener Wechselkurs erzeugt die verrücktesten Verzerrungen, höher als in Venezuela ist die Inflation nirgendwo in Südamerika. Vor kurzem wurde das TV-Programm von Chávez abgebrochen, weil Arbeiter eines verstaatlichten Stahlwerks vor laufender Kamera protestierten. Der Unfall in der Raffinerie Amuay, bei dem Ende August 38 Menschen umkamen, illustriert dramatisch die Vernachlässigung des Ölsektors.

Ein aufgeblähter Staatsapparat gehorcht chavistischen Direktiven, Richter und Staatsanwälte eingeschlossen. Sogar die Sozialpolitik stagniert, stellt Rafael Uzcátegui von der Menschenrechtsorganisation Provea fest. Selbst der jetzige Wahlmagnet lege nur die früheren Mängel offen: "Der Wohnungsbau ist von allen Sozialreformen am weitesten zurück."

"Dieser Bursche ist ein richtiger Tsunami"

"Dieser Bursche ist ein richtiger Tsunami, und dabei ist er ernsthaft, gelassen und moderat", schwärmt der 80-jährige Alt-Linke Teodoro Petkoff, der selber zweimal Präsident werden wollte, über den halb so alten Kandidaten der Opposition. Henrique Capriles würde am 7. Oktober der netteste Schwiegersohn Venezuelas gewählt, mit haushohem Sieg rechnen. Aber kann er auch Präsident? Der gelernte Wirtschaftsanwalt, dessen Familie einen weit verzweigten Mischkonzern besitzt, hat sich als Regierungschef des Bundeslandes Miranda bewährt. Er ist jung, er ist positiv, das Wort "Chávez" nimmt er nicht in den Mund. Dass ihn eine Parteien-Koalition auf den Schild gehoben hat, die außer erbitterter Gegnerschaft zu Chávez nichts verbindet, dass sich hinter ihm auch die ranzige Rechte schart, die 2002 den Militärputsch gegen Chávez in Szene setzte - man könnte es glatt vergessen, so gut kommt er rüber.

Bejubelt von seinen Anhängern tritt er, salopp gekleidet, ans Rednerpult, um sein Programm für die ersten 100 Tage zu verkünden. Darin kommt natürlich zuerst das vor, was er auch sonst von morgens bis abends beteuert: Dass er die Misiones beibehalten will; alles andere wäre politischer Selbstmord. Kriminalität, Gesundheit, Erziehung, Wohnungsbau, Besitztitel für die Bauern, Pensionen für die Soldaten, ein Thema nach dem anderen hakt er ab. Das wirkt seriös, wenn auch rhetorisch nicht gerade berauschend.

Wenn Chávez gewinnt, geht erst mal alles so weiter, jedenfalls bis seine jetzt kaum diskutierte Krebserkrankung wieder aktuell wird. Aber wenn Capriles siegt? Und vor allem wenn er - alles andere scheint ausgeschlossen - nur knapp gewinnt - wird Chávez das hinnehmen? Petkoff, der "von Anfang an gegen Chávez war", tippt darauf, dass sich der Comandante fügen würde, jedenfalls bei einer hinreichend klaren Schlappe. "Er hat seine Niederlagen immer akzeptiert", sagt Petkoff.

Die Furcht vieler Venezolaner ist aber: Je knapper das Ergebnis, desto brenzliger wird es am Abend des 7. Oktober. Und selbst wenn ein friedlicher Machtwechsel zustande käme, wären Capriles die Hände gebunden. Wie bringt er, fragen sich viele, den staatlichen Ölkonzern PdVSA auf Vordermann, dessen 99.000 Mitarbeiter sich mehr mit den Misiones als mit der Ölförderung befassen? Oder was geschieht mit den vielen entschädigungslos enteigneten Betrieben?