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Venezuela steht am Rand des Bürgerkriegs

Von Emilio Rappold

Politik

Caracas - Die gespannte innenpolitische Lage in Venezuela hat sich am Wochenende weiter verschärft nachdem am Freitag bei Schüssen auf regierungskritische Demonstranten drei Personen getötet und 28 verletzt worden waren. Präsident Hugo Chavez kündigte ein Durchgreifen beim staatlichen Erdöl-Unternehmen an und die Entlassung streikender Tanker-Kapitäne. Die Opposition riet ihrerseits zur unbefristeten Fortsetzung der seit 2. Dezember andauernden Streiks auf, durch die nach ihren Angaben die Ölindustrie des Landes zu 80 Prozent lahm gelegt ist.


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Die einstige "Friedensoase" Venezuela, die seit 1958 demokratisch ist und selbst zu Zeiten der Guerilla weit weniger Probleme als die meisten seiner Nachbarn hatte, steht nun am Rande des Bürgerkrieges. "Auf beiden Seiten gibt es in diesem Konflikt Gewaltbereite und die haben Blutdurst", warnt der angesehene politische Beobachter Sergio Dahbar.

Die Sorge wächst, nachdem am Freitag bei einem Anschlag auf eine Oppositionskundgebung drei Menschen erschossen und 28 verletzt worden sind. Noch nie war die "Plaza de Francia" im Nobelviertel Altamira in Caracas, Symbol des venezolanischen "Establishments", Schauplatz einer solchen Bluttat. "Wir versinken in Anarchie", klagt der Jurist Juan Rafalli. US-Botschafter Charles Shapiro warnte vor einer Eskalation der Gewalt. Der lateinamerikanische Handelsverbund Mercosur, mit Brasilien und Argentinien an der Spitze, stellte am Wochenende klar, dass es nur eine demokratische Lösung und keinen Staatsstreich akzeptieren werde.

Der Aufstieg des früheren Fallschirmjägers Hugo Chavez vom unbekannten Offizier und 1992 gescheiterten Putschisten zum "Messias der Armen" hat einen Keil in die venezolanische Gesellschaft getrieben. Die beiden Lager scheinen inzwischen hoffnungslos zerstritten. In den "Ranchitos", den Slums, die in den Hügeln um Caracas und anderen Großstädten wuchern, wird Chavez verehrt.

Die meisten der Armen, die 80 Prozent der Bevölkerung ausmachen und vom Ölboom des Landes nichts abbekamen, sind bereit, ihren "Comandante" unter Einsatz ihres Lebens zu beschützen. Das zeigten sie zuletzt im April eindrucksvoll, als sie zu Hunderttausenden auf die Straße gingen, nachdem Chavez von einer militärisch-bürgerlichen Bewegung gestürzt worden war. Nach 48 Stunden konnte Chavez wieder an die Macht zurückkehren.

Das "Establishment" dagegen beklagt eine "Diktatur", obwohl Chavez seit 1998 mehrfach in sauberen Wahlen siegreich war. Nicht nur Unternehmer und die Traditionsparteien, sondern auch die Gewerkschaften, die meisten Medien und Teile der Kirche werfen dem Präsidenten Machtmissbrauch, schlechte Wirtschaftspolitik und enge Beziehungen zu umstrittenen Regimes wie Kuba, dem Irak oder Libyen vor.

Ende letzten Jahres erhitzte Chavez die Gemüter mit einem Gesetzespaket, das laut Opposition das Recht auf Privatbesitz in verfassungswidriger Form beschränkt. Besonders kritisiert werden aber die so genannten Nachbarschaftszirkel. Diese Gruppierungen in Zivil werden nach Angaben der Opposition von der Regierung bewaffnet und sollen Regimegegner kontrollieren, ausspionieren und unterdrücken.

"Wenn der Streik weitergeht, wird es schon in den nächsten Tagen große Versorgungsprobleme geben, auch bei Lebensmitteln", meint Wirtschaftsprofessor Carlos Romero von der Universidad Central. Das Bruttosozialprodukt ist im dritten Quartal bereits um 5,5 Prozent gesunken. Heute müssen rund 60 Prozent der Venezolaner in der Schwarz- und Schattenwirtschaft überleben - so viele, wie nie zuvor.