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Verändert das digitale Zeitalter das Gehirn?

Von Malcolm Ritter

Wissen

Konzentration auf technische Systeme gefährdet Fähigkeit zu sozialen Kontakten. | Gehirn entwickelt neue Lernpfade. | New York. (ap) Verändert das Leben im digitalen Zeitalter die neuronale Verdrahtung des Gehirns? Diese bisher vor allem von besorgten Eltern gestellte Frage beschäftigt jetzt auch zunehmend die Neurobiologie und Psychologie. Einige Wissenschafter sind überzeugt, dass der regelmäßige Aufenthalt im Netz Einfluss darauf nehmen könnte, wie wir lesen, lernen und miteinander umgehen. Beweise für diese These liegen allerdings noch nicht vor.


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Verbringt das Gehirn mehr Zeit mit der Bedienung technischer Systeme, so lautet die These des Psychologen Gary Small von der Universität Los Angeles (UCLA), so geraten grundlegende soziale Fähigkeiten in den Hintergrund - etwa die Fähigkeit, im direkten Gespräch den Gesichtsausdruck des Gegenübers zu deuten. Die an der Face-to-Face-Kommunikation beteiligten Nervenleitungen könnten bei ständiger digitaler Beschäftigung schwächer werden, erklärt Small. Die mögliche Folge seien soziale Unbeholfenheit, eine Unfähigkeit zur Deutung nonverbaler Botschaften, Isolierung und nachlassendes Interesse an traditionellen Unterrichtssituationen.

Small vermutet, dass die Wirkung am stärksten bei Personen ist, die jetzt zwischen 20 und 30 Jahre alt sind und bereits seit ihrer Kindheit mit dem Computer vertraut sind. Er nennt sie "digital natives" (digitale Eingeborene) - im Unterschied zu den "digital immigrants", die ihre Kindheit und Jugend noch in rein analogen Zusammenhängen verbracht haben und als "digitale Zuwanderer" erst in einem späteren Lebensabschnitt mit den Möglichkeiten des Computers vertraut geworden sind.

Small hat seine Überlegungen in einem Buch ausgebreitet: "iBrain: Surviving the Technological Alteration of the Modern Mind". Er räumt ein, dass er keinen eindeutigen Fall kennt, der die These von der verändernden Wirkung digitaler Lebenswelten auf die Struktur der Nervenbahnen im Gehirn beweist.

Noch Forschungslücken

Smalls Thesen seien "ziemlich interessant und sicherlich provokant", sagt die Gehirnforscherin Tracey Shors vom Zentrum für Kollaborative Neurowissenschaft an der Rutgers University im US-Staat New Jersey. Andere sind skeptischer. Der Psychologe Robert Kurzban (University of Pennsylvania) sagt, es gebe noch erhebliche Forschungslücken, wenn es um den Einfluss persönlicher Erfahrungen auf die für soziale Interaktion zuständige Hirnpartien gehe.

Den Einfluss der digitalen Lebenswelt auf das Lesen hat Maryanne Wolf an der Tufts University bei Boston untersucht. Wenn ein Kind lesen lerne, erklärt Wolf, entwickle sein Gehirn Pfade, die nach und nach ein immer komplizierteres Verständnis ermöglichten. Diese von ihr als "deep reading" bezeichnete Vorgang braucht allerdings seine Zeit, auch wenn es oft nur Sekundenbruchteile sind.

In der vernetzten Welt aber geht es um Geschwindigkeit, um schnelles Sammeln von oft nur oberflächlichen Informationen. Wolf fragt, was passiert, wenn bereits kleine Kinder immer mehr am Computer lesen. Wird ihr Gehirn dann Abkürzungen der normalen Lesepfade im Gehirn entwickeln? Und wird dies ihre Fähigkeit verringern, über das Gelesene nachzudenken? Diesen Fragen will Wolf weiter nachgehen, um Empfehlungen für das Lesen in der digitalen Welt zu entwickeln.

Ein "digitaler Eingeborener", der 19-jährige John Rowe aus der Nähe von Pasadena in Kalifornien, ist jeden Tag sechs bis zwölf Stunden online. Er springt vom Instant-Messaging mit Freunden über Spiele wie Cyber Nations und Galaxies Ablaze zu Online-Foren für Computerspiele und Disc-Jockeys. Soziale Fähigkeiten? Rowe meint, dass er und seine Buddies in dieser Hinsicht keinen Nachholbedarf haben.

Aber er gibt auch zu, dass an den Thesen des Psychologen Small etwas dran sein könnte, wenn er an andere Leute aus seinem Bekanntenkreis denkt. "Wenn ich nicht aktiv rausgehen und versuchen würde, Zeit mit meinen Freunden zu verbringen, hätte ich nicht die sozialen Fertigkeiten, die ich habe", sagt Rowe. Er schätzt, dass er zumindest drei Abende in der Woche mit seinen Freunden zusammen ist. "Das kann man einfach nicht aufgeben, normale Freunde zu haben, die man fast jeden Tag sieht."

Vor mehr als 2000 Jahren warnte Sokrates vor den Gefahren des geschriebenen Worts - das Risiko des oberflächlichen Lernens sei da viel höher als bei der traditionellen mündlichen Weitergabe von Erkenntnissen. Und mit der Einführung des Fernsehens gab es Bedenken, dass die Kinder gewaltsamer oder passiver oder lernunwillig werden könnten. Der 19-jährige Kalifornier Rowe bleibt auch bei den Folgen der digitalen Technik gelassen: "Natürlich verbringen wir viel Zeit vor dem Computer. Wir führen aber immer noch ein völlig normales und perfektes Sozialleben."