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Verändert das Minderheitsrecht den Parlamentarismus?

Von Walter Hämmerle

Politik
© Robert Newald/Wiener Zeitung

Neisser: "Reform des U-Ausschusses ist eine Chance, es wäre traurig, wenn Parteitaktik obsiegt."


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Wien. Dass künftig die Minderheit die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beschließen können soll, wird als historische Zäsur bewertet. Stimmt das tatsächlich und wenn ja, wie wird dieses neue Machtinstrument der Opposition die Verhältnisse im Hohen Haus verändern?

Diese Frage stellte die "Wiener Zeitung" erfahrenen Parlamentariern und Experten. Den Anfang macht der Verfassungsrechtler, ehemalige ÖVP-Klubobmann und Zweite Nationalratspräsident Heinrich Neisser (78).

"Wiener Zeitung": Ist der Umstand, dass künftig bereits ein Viertel der Abgeordneten einen U-Ausschuss einsetzen kann, tatsächlich eine historische Zäsur?

Heinrich Neisser: Ich halte das für eine durchaus positive Sache, sie ist ja auch lange genug diskutiert worden. Dass eine Minderheit einen U-Ausschuss beschließen kann, ist ein wichtiger Teil der Kontrolle im parlamentarischen Raum. Ehrlicherweise muss man aber dazusagen, dass es mit der Einsetzung allein noch nicht getan ist: Entscheidend werden die Verfahrensdetails im Rahmen der Geschäftsordnung sein.

Was werden hier die wichtigen Punkte sein?

Da geht es um Fragen der Beweisführung, wer hat das Vorsitzrecht, wie erfolgen Zeugenladungen und Befragungen. Hier gibt es einen langen Katalog.

Das Problem des modernen Parlamentarismus besteht ja darin, dass eigentlich die Minderheit die Mehrheit kontrollieren sollte. Gleichzeitig ist die Quintessenz von Demokratie, dass die Mehrheit in den alltäglichen Machtfragen das letzte Wort behält, schließlich kann sie sich auf das Votum der Wähler berufen. Muss sich an den Rechten von Mehr- und Minderheit grundsätzlich etwas ändern?

Das Grundprinzip des Parlaments besteht natürlich darin, dass die Mehrheit entscheidet, das ist untrennbar mit der Demokratie verbunden. Das gilt vor allem für die Gesetzgebung. Das Parlament hat aber auch die Aufgabe, die Exekutive zu kontrollieren. Dazu benötigt die Minderheit entsprechende Möglichkeiten. Hier ist das Minderheitsrecht auf Einsetzung eines U-Ausschusses von entscheidender Bedeutung, weil es dem Parlament im Unterschied zum Interpellationsrecht und Fragerecht unmittelbar und aus eigener Wahrnehmung die Möglichkeit einräumt, die Regierung zu kontrollieren.

Die Reform sieht die Einbindung diverser Akteure vor, die außerhalb des Parlaments stehen: Ein emeritierter Richter soll die Erstbefragung von Auskunftspersonen durchführen und dem Vorsitz beistehen, der Verfassungsgerichtshof strittige Rechtsfragen entscheiden und die Volksanwaltschaft, obschon eine Einrichtung des Parlaments, soll ebenfalls vermitteln. Offensichtlich gibt es erhebliche Zweifel an der Fähigkeit des Parlaments, mit dieser schärfsten Waffe der Kontrolle verantwortungsvoll umzugehen. Irgendwie ein Armutszeugnis, oder?

Okay ist das nicht. Meine Idealvorstellung wäre es, dass das Parlament aus eigener Verantwortung und mit eigenen Mitteln diese Aufgabe bewältigt. Das ist offensichtlich nicht möglich. Die Regierungsmehrheit hat über Jahre hinweg alle unbequemen Untersuchungsgegenstände abgeblockt, und auch die Opposition hat der Versuchung nicht widerstehen können, U-Ausschüsse als Schauprozesse zu inszenieren. Beiden Seiten hat hier jene Parlamentskultur gefehlt, die aber notwendig ist. Deshalb sind diese Regelungen eine vom Prinzip her fragwürdige Konzession an die problematische Realität unseres Parlamentarismus, die es aber auch in Deutschland und anderswo gibt.

Kritiker bemängeln, dass der Mehrheit die Möglichkeit bleibt, unangenehme Themen abzublocken, da die Minderheit nur jeweils einen U-Ausschuss beschließen kann.

Die Zahl der gleichzeitig tagenden U-Ausschüsse muss begrenzt werden, aber die Minderheit sollte doch die Möglichkeit haben, mehr als einen einzusetzen.

Wie bewerten Sie generell den Zustand des heimischen Parlamentarismus?

Ich halte die Entwicklung für nicht befriedigend, das Parlament ist zunehmend zum Exekutor der Regierungsmehrheit geworden.

War das früher wirklich anders?

Es war natürlich nicht alles besser. Dieses Problem lässt sich auch nicht institutionell lösen, es ist eine Frage der Persönlichkeiten. Meiner Beobachtung nach gab es früher mehr solcher Abgeordneten, die, obwohl Teil der Regierungsfraktionen, eine kritische Grundhaltung an den Tag gelegt haben. Solche findet man heute seltener, was ich stark dem bestehenden Wahlrecht zuschreibe. Deshalb plädiere ich auch für eine Stärkung der Persönlichkeitswahl. Dem Ideal hat unser Parlament aber nie entsprochen, früher nicht und jetzt nicht.

Und kann die Reform hier eine Wende zum Besseren einläuten?

Ja, wenn die Abgeordneten verstehen, welche Verantwortung sie tragen. Ich bin überzeugt, dass die parlamentarische Untersuchungsmacht in einer Zeit, in der systemische Korruption zunimmt, noch viel wichtiger werden wird. Das Parlament eignet sich eindeutig am besten als Plattform für die Debatte über die notwendige Transparenz und Reinheit politischer Prozesse. Theoretisch ergäbe diese Reform also eine Reihe von Möglichkeiten. Traurig wäre es, wenn es wieder nur zum Taktieren der Parteien kommt. Wir stehen vor einer Bewährungsprobe für das Parlament an sich.