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Verantwortung für Laster

Von Teresa Reiter

Wissen

Medizinethikerin Alena Buyx über Eigenverantwortung, Schuld und Moralurteile im Gesundheitsbereich.


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Wien. Wir arbeiten, trinken, essen zu viel und das Falsche. Wir sitzen nicht richtig, bewegen uns zu wenig, bekommen Herzinfarkte und Lungenkrebs. Oder wir geben unser Geld für Sportkurse und experimentelle Therapien aus und werden trotzdem krank. Die Medizinethikerin Alena Buyx über Eigenverantwortung, Schuld und Moralurteile im Gesundheitsbereich.

"Wiener Zeitung": Ist Gesundheit Bürgerpflicht oder dürfen wir uns im Namen der Eigenverantwortung zu Tode saufen, fressen, rauchen?Alena Buyx: Das sind die Extrempositionen. Ich habe eine Position in der Mitte. Wir wissen, dass ein Großteil unserer Krankheitsbelastung verhaltensbedingt ist. Was beim Individuum selbst letztlich entscheidend ist, steht aber in den Sternen. Man weiß nie, hat einer einen Herzinfarkt, weil er ein hoch bezahlter Manager ist, der einen Wahnsinnsstress hat, oder weil er einen Body Mass Index von 30 hat, sich kaum bewegt oder raucht. Eine solche Erkrankung ist multifaktoriell. Darin liegt das erste Problem. Wir können zwar sagen, es gibt ganz klar einen Bezug zwischen Gesundheitsverhalten und Krankheit, aber beim einzelnen Individuum ist es schwierig, das genau festzulegen. Das müssten wir aber können, wenn wir jemanden zur Verantwortung ziehen wollen.

Dass heißt man ist, selbst wenn man ungesund lebt, nicht notwendigerweise der Alleinschuldige an seinen Krankheiten?

Es ist letztlich auch ein moralisches Urteil, zu sagen, jemand sei "schuld" an seiner Erkrankung, oder dass das Gesundheitsverhalten ein völlig rationales und freies sei. Es ist nicht wie ein Autokauf - also keine Einzelentscheidung. Das Gesundheitsverhalten ist lebenslang und summiert sich durch viele Entscheidungen bei Essen, Trinken, Rauchen, Bewegen. Es ist determiniert dadurch, was jemand in seiner Familie erlebt hat, denn dieses Verhalten wird im Kindesalter angelegt. Genetische Faktoren spielen eine Rolle, auch soziale Fragen. Aber auch Dinge wie unsere Umgebung, was man Entscheidungsarchitektur nennt, sind relevant. Wenn du überall umgeben bist von Werbung für fettiges, süßes, billiges Essen und es zugleich immer schwerer wird, sich körperlich zu betätigen, weil sich die Arbeitswelt verändert und wir ständig acht Stunden vor dem Computer sitzen, dann ist das einfach keine ganz rationale und selbstbestimmte Entscheidung.

Dürfen wir den Einzelnen aus seiner Eigenverantwortung entlassen?

Nein, denn wenn jeder nur seinen Instinkten folgt, fährt uns unser Gemeinwesen an die Wand und wir können unser Gesundheitssystem irgendwann nicht mehr bezahlen. Aber wir können auch nicht sagen: Du bist schuld an deiner Erkrankung. Wir müssen einen Weg dazwischen finden. Problematisch finde ich Sanktionen bei jemandem, der schon erkrankt ist. Etwa: Du rauchst und deshalb bekommst du die Krebsbehandlung nicht mehr. Oder: Du wiegst zu viel und deshalb bekommst du die Bypass-Operation nicht. Anreize zu schaffen, anzustupsen und unsere Umwelt so zu gestalten, dass es einfacher wird, sich gesundheitsbewusst zu verhalten, würde ich befürworten.

Wie stark hängt Gesundheitsverhalten mit sozialer Klasse zusammen?

Es gibt Daten, die zeigen, dass es eine ganz klare sozioökonomische Komponente gibt. Etwa hat die Whitehall-Studie an Angestellten im britischen Öffentlichen Dienst gezeigt, dass jede Stufe höher hinsichtlich Ausbildung, Gehalt und sozialem Status mit besserer Gesundheit korreliert. Diese Schere scheint im Moment noch mehr aufzugehen.

Aber das liegt nicht nur daran, dass sich die Höhergestellten eine andere medizinische Betreuung leisten können, oder?

In unseren reichen Gesellschaften hat der Zugang zur Gesundheitsversorgung einen relativ kleinen Einfluss. Vielmehr wiegen soziale Faktoren und wie sich unsere Lebenswelt verändert hat. In den USA hingegen, wo es bis zu Obamacare viele Unversicherte gab, die nur zu absolut basaler Notfallversorgung Zugang hatten, war es so, dass der Zugang relevant war.

Es gibt auch Menschen, die grundsätzlich gesund leben, aber dann experimentelle Behandlungen ausprobieren, die nicht zielführend sind und ihren Gesundheitszustand sogar noch verschlimmern. Gibt es da auch eine Schuldfrage?

Da muss man genau hinschauen. Insgesamt erlauben wir einen gewissen Grad an Selbstzerstörung -, das ist sozial akzeptiert. So wie wir etwa alle gemeinsam Alkohol trinken und Rauchen nicht komplett verpönt ist. Solange wir bestimmte Körpermodifikationen, einen bestimmten Arbeitsstil, Stress und Bewegungsmangel akzeptieren, solange ist es schwer, zu sagen, jetzt müssen wir den Extremsportler oder die Frau, die eine wilde experimentelle Therapie anvisiert, bestrafen. Wenn wir genauer hinschauen, kann es sein, dass diese junge Frau sich gesund ernährt, viel Sport treibt und nun aber diese eine Sache macht. Das werfen wir vielleicht dem Manager nicht vor, obwohl der seine Gesundheit durch seine Arbeit auch stark beeinträchtigt.

In der Diskussion sind also viele Werturteile versteckt.

Genau. Wir mögen die Raucher nicht so gerne und finden jemand, der mehr wiegt, der muss faul sein. Das ist der falsche Weg. In meiner Disziplin hört dann meist die Debatte auf, weil es einen Konsens gibt, dass das der falsche Weg ist. Das wiederum ist etwas, was mich bedrückt, denn es ist nun mal so, dass das Verhalten so relevant für den Gesundheitszustand ist. Bloß, weil wir sagen, wir dürfen Menschen für ihr Verhalten nicht bestrafen, heißt es nicht, dass wir uns vom Gesundheitsverhalten abwenden - das geht auch nicht. Das Gesundheitsverhalten ist so entscheidend, dass wir da ranmüssen mit Aufklärung, und mit der Gestaltung unserer Lebenswelt. Da sind Ansätze, die es wert sind, genauer hinzusehen.

Zur Person

Alena

Buyx

ist seit April 2014 Professorin für Biomedizinische Ethik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Mitglied im Deutschen Ethikrat.