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Die turbulenten und teilweise irregulär verlaufenen Parlamentswahlen in Georgien vom Sonntag, dem 2. November, haben keinen Ausweg aus der Dauerkrise des kleinen Landes zwischen Schwarzem Meer und Kaukasus gewiesen. Die Demonstrationen für einen Rücktritt von Präsident Eduard Schewardnadse dauerten auch gestern an.
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"Genug der Herrschaft Schewardnadses in Georgien", stand auf Plakaten der Demonstrationszüge, die seit Anfang Juni - dem offiziellen Auftakt zu den Parlamentswahlen - immer wieder durch die Straßen der georgischen Hauptstadt Tiflis marschierten. Und das war und ist auch der Schlachtruf nach dem scheinbaren Sieg der oppositionellen Parteien nach dem Urnengang. Nach den bisher veröffentlichten Teilergebnissen kommen sie zusammen auf rund 60 Prozent der Stimmen. Damit haben die Wähler dem 75jährigen Schewardnadse, der seit über zehn Jahren an der Spitze des Landes steht und 30 Jahre lang die Geschicke seiner Heimat mitbestimmt hat, eine ziemliche Abfuhr erteilt.
Der georgische Präsident, der die Regierung ernennt und die Gesetze letztlich in Kraft setzt, ist die bestimmende politische Kraft im Lande. Opposition und Bevölkerung machen ihn daher zu Recht für den offensichtlichen Niedergang des Landes verantwortlich.
Georgiens Niedergang
In der Tat ist aus der ehemals blühenden Sowjetrepublik ein verarmtes, innerlich zerrissenes und von Bürgerkrieg und Sezession bedrohter Staat geworden. Vor der Unabhängigkeit 1991 hatte Georgien das höchste Pro-Kopf-Einkommen aller Sowjetrepubliken. Heute lebt nach Angaben der Weltbank mehr als die Hälfte der 5,28 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze.
Obwohl die Wirtschaft 2001 angeblich um 4,5 Prozent und 2002 um 5,4 Prozent gewachsen ist und heuer sogar um gut 8 Prozent wachsen soll, hat sich der Lebensstandard der Bevölkerung nicht verbessert. 10 Prozent der Georgier verdienen nicht einmal 40 Laris (19 Dollar) pro Monat, obwohl das Existenzminimum mit 115 Laris festgesetzt ist. Strukturreformen in der Wirtschaft sind ausgeblieben, weshalb der Internationale Währungsfonds die Zusammenarbeit mit Georgien ausgesetzt hat. Stromausfälle und Frieren im Winter sind eine Alltäglichkeit.
Schewardnadse ist es auch nicht gelungen, Georgien seine territoriale Integrität wieder zu geben und man ist fast an "afghanische" Verhältnisse erinnert. Die Gewalt der Regierung reicht de facto nicht sehr weit: Die Provinz Abchasien im Nordwesten hat sich abgespalten, ebenso Südossetien, das sich mit der russischen Provinz Nordossetien zusammenschließen will. In den abgeschiedenen Tälern und Schluchten im Norden, die an die russischen Unruheprovinzen Inguschetien, Tschetschenien und Dagestan grenzen, wo sich vornehmlich Gangsterbanden und hie und da wohl auch tschetschenische Rebellen oder versprengte El-Kaida-Kämpfer verstecken, hat die Zentralregierung ebenfalls nichts zu melden. Die autonome Republik Adscharien (wo moslemische Georgier leben) hat sich zwar formell nicht losgesagt, ist aber unter ihrem Provinzfürsten Aslan Abaschidse "ein Staat im Staate" und wird es wohl auch nach dem Urnengang bleiben. Abaschidses Partei ist nach den bisher bekannten Wahlergebnissen zweitstärkste hinter Schewardnadses Block "Für ein neues Georgien", und hat den Präsidenten im Parlament bisher eher unterstützt. Der Provinzfürst empfahl dem Präsidenten ein "hartes Vorgehen" gegen die Demonstranten.
Außenpolitische Schwäche Außenpolitisch hat Schewardnadse eine weitgehend glücklose Schaukelpolitik zwischen den USA, Europa und dem übermächtigen nördlichen Nachbarn Russland versucht - und keine Seite wirklich für sich gewonnen.
Georgien hat zweifelsohne geostrategische Bedeutung für den Westen. Durch die Kaukasusrepublik führt die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline, die mit US-Unterstützung (um Russland und die Ukraine keine Transitgebühren verdienen zu lassen) von westlichen Ölunternehmen gebaut wird und Erdöl vom Kaspischen Meer und Zentralasien auf den Weltmarkt bringen soll, und eine Gaspipeline, die ebenfalls in Baku beginnt, und über Georgien schließlich in Erzerum an das türkische Gasnetz andockt. Doch die USA betrachten Georgien (ebenso wie Aserbeidschan) als eher unsicheren "Kantonisten", wenig demokratisch und potentiell instabil. Wären nicht die Öl- und Gasinteressen, würde die US-Unterstützung wohl ganz ausbleiben.
Spannungen mit Russland
Obwohl der russische Präsident Wladimir Putin Schewardnadse gestern seine Unterstützung in der aktuellen Situation zugesagt hat, sind die Beziehungen mit Russland gespannt. Moskau unterhält zwei Militärstützpunkte in der abtrünnigen Provinz Abchasien und alle Verhandlungen über einen Abzug sind bisher gescheitert. Ständig gibt Vorwürfe aus Moskau, dass Georgien zu wenig gegen die einsickernden tschetschenischen Rebellen unternähme, aber dass die USA nun Spezialeinheiten gegen Terroristen in Georgien unterhalten, ist Moskau auch nicht recht. Russland versucht die pro-westliche Orientierung Georgiens wirtschaftlich zu unterlaufen, indem es Industrien und Infrastruktureinrichtungen Georgiens übernimmt: So hat etwa heuer im Frühjahr der staatliche russische Stromriese EES (mit Billigung des georgischen Präsidenten) das gesamte georgische Elektrizitätswesen unter seine Fittiche genommen, was der daraufhin unter Protest zurückgetretene georgische Wirtschaftsminister schlicht als "Landesverrat" bezeichnete.
Dämpfer für Schewardnadse
Trotz der zahlreichen Unregelmäßigkeiten der Parlamentswahlen vor über einer Woche (unvollständigen Wahllisten, 600.000 "Stimmberechtigte", die im Ausland leben oder bereits tot sind, 3,1 Millionen Stimmzettel für 2,5 Millionen Wahlberechtigte, usw.) haben sie einen Dämpfer für die Partei des Präsidenten gebracht.
Die Zukunft sieht aber deswegen keineswegs rosig aus. Denn die oppositionellen Parteien hatten und haben als einzigen gemeinsamen Nenner nur ihre Gegnerschaft zu Schewardnadse und konnten keine glaubwürdigen und miteinander kompatiblen wirtschaftlichen, innen- oder außenpolitischen Konzepte vorlegen. Sie schlagen sich stattdessen buchstäblich gegenseitig die Köpfe ein. So wurde etwa Sozialisten-Chef Wachtang Rtscheulischwili während einer hitzigen Diskussion mit Kollegen von der Vereinten Demokratischen Partei in seinem Parlamentsbüro statt mit Argumenten mit einer Porzellanvase außer Gefecht gesetzt und verletzt.
Außenpolitisch ist der Führer der radikalen "Nationalen Bewegung", Michail Saakaschwili übertrieben pro-amerikanisch, während die Führerin der "Vereinten Demokraten" Nino Burdschanadse von der Schewardnadse-Partei wenige Tage vor dem Urnengang gar als bezahlte Mitarbeiterin des russischen Geheimdienstes denunziert wurde. Dabei vertritt sie nur die an sich vernünftige Meinung, dass man mit dem übermächtigen Nachbarn irgendwie auskommen muss. Die Unternehmerpartei "Neue Rechte" ist wiederum in scharfem Gegensatz zur linken "Partei der Arbeit". Kein Wunder also, dass - wie bei den Präsidentenwahlen in Aserbeidschan im Oktober - eine Einheitsfront der Opposition auch in Georgien scheiterte.
Schewardnadse will, wenn auch durch den Ausgang der Wahlen massiv geschwächt, unbedingt bis zum Ende seiner regulären Amtszeit im Jahre 2005 Präsident bleiben. Nach ihrem Erfolg bei der Parlamentswahl bestehen die Oppositionsgruppen aber auf einem sofortigen Rücktritt Schewardnadses und unterstreichen ihre Forderung mit seit Tagen nicht abebben wollenden Massendemonstrationen. Schewardnadse, dessen Partei nach bisher bekanntem Auszählungsstand rund 21 Prozent erreicht (1999 waren es noch 41 Prozent), hat indes angekündigt, in 27 (von 2870) Wahlbezirken die Wahl wegen Unregelmäßigkeiten wiederholen zu lassen.