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Verbale Beurteilung statt Noten

Von Peter Slavin

Politik

Rita Welte unterrichtet an der Rudolf Steiner-Schule in Wien Mauer, an der die Leistung der Schülerinnen und Schüler nicht von Eins bis Fünf beurteilt wird: "Noten werden den Schülern einfach weniger gerecht als verbale Beurteilungen."


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"Das Problem einer Zensur", erklärt Welte, "ist, dass sie einen Wert hat. Wer einen Fünfer hat, ist schlecht. Der umgangssprachliche Fleck kommt ja nicht von ungefähr. Man gilt als in seiner Persönlichkeit befleckt." Nach Ansicht der ehemaligen staatlichen Volksschullehrerin, die das herkömmliche System der Benotung also durchaus kennt, können verbale Beurteilungen "über die Leistung und das Bemühen der Schüler viel mehr aussagen als es in einer Note ersichtlich ist." Auch fällt für die Schüler der "Moment des Stresses weg, der nicht unbedingt positiv motivierend ist."

Unterricht als Epoche

In der Rudolf Steiner-Schule wird in zwölf Schulstufen (jeweils vier Jahre Volks-, Haupt, Mittelschule) nach dem Waldorf-Lehrplan unterrichtet, "dessen Methodik und Lehrinhalte sich an der Entwicklung des heranwachsenden Menschen orientieren und diese optimal zu fördern versuchen", wie es auf der Homepage der Schule heißt. Im Stundenplan drückt sich dies insofern aus, als der Unterricht in Haupt- und Fachunterricht aufgetielt wird, auch "wenn wir über den Begriff Hauptunterricht nicht ganz glücklich sind. Der Fachunterricht ist nicht weniger wert." Der Hauptunterricht umfasst dabei Gegenstände von Mathematik über Geschichte bis Biologie und wird in den ersten beiden Unterrichtsstunden drei bis vier Wochen lang als sogenannte Epoche unterrichtet. "Nach diesen vier Wochen lässt man das Thema sinken, wobei Mathematik aber in zwei bis drei Epochen pro Jahr durchgenommen wird." Es gibt auch Epochen, die nur einmal vorkommen, etwa Geographie.

Während solch einer Epoche wird von den Schülern ein Heft angelegt, anhand dessen am Epochenende ab der fünften Schulstufe ein Test durchgeführt wird, "wobei natürlich nicht einfach abgeschrieben wird, sondern eine logische Verbindung geschaffen werden muss." Beurteilt werden die Tests natürlich verbal. Von der ersten bis zur vierten Schulstufe sind keine Tests vorgesehen.

Auf die zweistündige Epocheinheit folgt eine zwanzigminütige Pause, der wiederum der Fachunterricht folgt. Hierbei handelt es sich unter anderem um die zwei Fremdsprachen Englisch und Russisch oder etwa Turnen und Musik.

Keine Sitzenbleiber

Am Ende eines Jahres (Semester gibt es keine) erhalten die Schülerinnen und Schüler ihr Jahreszeugnis in Form einer Mappe mit einzelnen Blättern, auf denen zunächst der Klassenlehrer, der die Epochen unterrichtet hat, das Kind beschreibt, gefolgt von den verbalen Beurteilungen der Fachlehrer. "Eigentlich handelt es sich hierbei um Charakterisierungen über die Begabung, über die Leistung, über den Leistungsfortschritt und über die Bemühungen der Schülerinnen und Schüler." Sitzenbleiben und die Klasse zu wiederholen muss dabei niemand befürchten. "Die Lehrer begleiten in der Waldorf-Schule den Entwicklungsweg des Kindes, wenn jemand sitzenbleiben müsste, würde ihn das völlig aus dem Klassenverband herausreißen, sozial wäre dies für den Schüler eine Katastrophe." Und wenn es sich um besonders schwache Schüler handelt?

"Es gibt eine schweizer Studie, die Schüler beobachtet hat, die eine Klasse wiederholen mussten. Im Wiederholungsjahr haben diese Schüler ihren Vorsprung bald verspielt, um im Jahr darauf abzusinken. Sitzenbleiben hat für mich überhaupt keine positive Wirkung und entwicklungspsychologisch halte ich es auch für ganz schlecht."

Abschluss ohne Matura

Abgeschlossen wird die Rudolf Steiner-Schule mit der zwölften Klasse, nicht mit der Matura. Diejenigen, die Matura machen wollen, müssen in eine andere Schule wechseln und ein Jahr anhängen. Sollte dies der Wunsch der Schüler sein, wird eine Ausnahme von der verbalen Beurteilung gemacht. "Wir sind schon berechtigt, Noten zu geben. Das machen wir natürlich dann, wenn die Schülerinnen und Schüler ein Abschlussnotenzeugnis brauchen, um in einer anderen Schule die Matura zu machen." Doch nicht alle wollen dies, wie etwa die Rudolf Steiner-Abgängerin und nunmehrige Sängerin und Schauspielerin Stella Fürst, deren Soloprogramm "Traummann verzweifelt gesucht" Ende Mai im Theater Drachengasse aufgeführt wird. Bereut hat sie ihre Entscheidung nicht: "Ich wurde niemals nach der Matura gefragt."