Der Alb des Schiffbruchs prägt Leben und Fantasie der Küstenbretonen. Warnung und Trost bieten Sagen von der unendlichen Fahrt - und Monumente christlichen Heils.
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<p>Wer dem Meer traut, traut dem Tod! Was für die alten Bretonen galt, galt schon in der Antike: Die Schifffahrt stellt ein offenes Wagnis dar. Im Subtext: Wer dabei sein Leben lässt, hat dies selbst verschuldet. Vor diesem Sühneopfer ist auch der kleine Küstenfischer nicht gefeit, wenn er die Warnzeichen des Himmels missachtet. Der Seemann der weiten Ozeane freilich fordert das Schicksal in besonderem Maße heraus, zumal er die Grenzen eines göttlich definierten Weltenraums durchbricht: Für die Hellenen endete der Kosmos an der Meerenge von Gibraltar. Herakles soll diese Landmarke besiegelt haben, indem er die dortigen Felsen ("Säulen des Herakles") mit der Inschrift versah: "Nicht mehr weiter!" Die lateinische Version dieses Überschreitungsverbots hat längst sprichwörtlichen Charakter: "Non plus ultra!" Bis hierher, und nicht weiter!<p>
Wer so vermessen ist, über eine geheiligte Schwelle hinauszustreben, macht sich frevlerischer Weltneugier schuldig und zieht den Zorn der Götter auf sich. Die Hybris des Steuermanns wird mit Schiffbruch oder ewiger Irrfahrt geahndet. Ob der Inbegriff des irrenden Seefahrers, der homerische Odysseus, diese mythische Grenze überschritten hat, darüber stritten sich viele Geister. Denn der realgeographische Nachvollzug der mythischen Irrfahrt gestaltet sich schwierig. Eines jedoch steht fest: Homers Odysseus kehrt nach zehnjähriger Irrfahrt heim nach Ithaka.<p>
Vermessener Aufbruch
<p>Dantes Odysseus hingegen stößt mit seinem Schiff in einem "wahnwitzigen Flug" vor bis in den Südatlantik - und landet als Schiffbrüchiger im Inferno. Er ist der Vorbote einer erkenntnisgeschichtlichen Epochenschwelle: jener vom Mittelalter zur Neuzeit. Er wagt den vermessenen Aufbruch aus der festen, göttlichen Weltordnung in offenes, unbekanntes Neuland.
<p>Der Renaissancephilosoph Francis Bacon setzt die Passage der "Säulen des Herakles" bereits mit dem triumphalen Vorstoß in neue Wissensgebiete gleich. Eine graphische Darstellung der antiken Weltengrenze ziert das Titelblatt seines Werks "Novum Organum Scientiarum"; darunter steht geschrieben: "Viele werden hindurchfahren und die Erkenntnisse der Wissenschaft werden sich vermehren."<p>Zurück zu Dante: Seine "Divina Commedia" beginnt an einer heilsgeschichtlichen Schwelle des Christentums: Der Abstieg des Dichters ins Inferno erfolgt in der Nacht zum Karfreitag, zu jenem Tag, an dem Jesus den stellvertretenden Sühnetod für die sündige Menschheit starb. Vom Gericht zur Richtstätte (konkret: von Pilatus’ Amtssitz zum Kreuzigungshügel Golgotha) führte sein Leidensweg. Tausende Christen pilgern alljährlich nach Jerusalem, um die schmerzensreiche Strecke - "Via Dolorosa" - im Rahmen der Karfreitagsprozession nachzugehen.<p>Dieser christliche Erinnerungsort kündet aber nicht nur vom physischen Martyrium Jesu. Er erzählt auch vom frevelhaften Gebaren jener Soldaten und Gaffer, die den Schmerzensmann auf dem Kreuzweg mit Schmach und Spott, Hass und Häme überschütteten. Solch "biblische" Hybris lieferte reichlich Stoff für Volksmärchen und Legenden, die allesamt um ein Thema kreisen: den Fluch der unendlichen Wanderschaft/Fahrt.<p>Da ist zum Beispiel die Geschichte von jenem Mann, der Jesus, als dieser erschöpft das Kreuz abstellt, höhnisch zur Eile antreibt. In einer ganz alten Version war dies Cartaphilus, ein römischer Torwächter von Pilatus; in einer deutschen Volkssage aus dem Jahr 1602 wurde daraus ein jüdischer Schuster namens Ahasver, der Jesus verwehrte, vor seinem Haus zu rasten. In beiden Fällen habe Jesus geantwortet: "Ich werde stehen und ruhen, du aber sollst bis zum letzten Tag gehen!" Es ist dies die Verdammnis zu ewiger Wanderschaft, - die Geschichte des Ewigen Juden. Wer die Heilstat Jesu, dessen Sühnetod, auf solche Art verhöhnt, dem ist die Erlösung aus seinem eigenen Leidensweg (dem irdischen Leben) versagt.<p>
Preis der Hybris
<p>Ein motivgeschichtlicher Bruder des Ewigen Juden ist der Fliegende Holländer. Die Hybris dieses (höllisch rasanten) holländischen Ostindienfahrers bestand darin, die schwierige Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung trotz heftigster Stürme forciert zu haben. Und dies mit dem fatalen Schwur, dafür erforderlichenfalls bis zum Jüngsten Tag zu segeln. Der Preis für die Missachtung des göttlichen Warnzeichens (Sturm) war hoch: der Kapitän muss bis zum Jüngsten Tag durch die Meere irren.<p>Der "Fliegende Holländer" hat Richard Wagner zu seiner gleichnamigen Oper inspiriert. Das Erlebnis schwerer See konnte der Komponist sogar persönlich verbuchen, auf jenem Schiff, das ihn 1839 nach England trug. Über seinen ruhelosen Opernhelden meinte Wagner übrigens: "eine merkwürdige Mischung des Charakters des Ewigen Juden mit dem des Odysseus".<p>Das Motiv des verdammten Seefahrers begegnet in den Volkssagen vieler Länder und Regionen. Eine davon ist die Bretagne. Ihre riffreichen Küsten sowie der ungestüme Atlantische Ozean haben stets einen hohen Zoll gefordert: Legionen von Fischern und Seemännern haben da ihr Leben gelassen. Die Erfahrung, den Elementen ausgeliefert zu sein, wie auch der Alb, auf ewig vom Meer verschlungen zu werden, sind tief im kollektiven Bewusstsein der Bretonen verankert - und in einem phantasmagorischen Sagenschatz gestaltet.<p>Dieses Erzählgut - ein Amalgam aus antiker und keltischer Mythologie wie christlicher Heilsgeschichte - ist randvoll mit dunklen Omen, Höllenfahrten, Schiffbrüchen und spukenden Untoten. Pure Schauerliteratur, wie die folgenden Beispiele zeigen.<p>Leichname, welche die See nicht preisgibt, irren als Unerlöste durch Fluten und Zeiten. Für manch nächtens Geborenen ist solch Los von vornherein besiegelt: Schiebt sich nach seiner Geburt eine Wolke vor den Mond, wird ihn dereinst das Meer holen.<p>Die Seelen dieser Ertrunkenen treiben in Totenbarken (bret. Bag Noz) durch die Nacht, heben zu Klagen an, rufen um Errettung aus der Irrfahrt. Überall an den Küsten seien sie zu hören, so die Mär; doch weh dem, der zurückruft: Beim ersten Mal rückt der Ertrunkene um die halbe Distanz an den Lebenden heran, beim zweiten Mal um die Hälfte der Hälfte - und beim dritten Mal dreht er ihm den Hals um. Doch selbst für diese Unseligen gibt es Hoffnung auf Heil:<p>Sie werden erlöst, wenn ein weiterer Mensch an ihrem Unfallort stirbt; oder wenn man ihnen ein Scheinbegräbnis (bret. "Proella") ausrichtet: ein Kreuz aus geweihten Kerzenresten symbolisiert den Toten und wird stellvertretend für diesen bestattet.<p>Die fantastischen Küsten des Finistère fördern die Empfänglichkeit für übersinnliche Zeichen. In diesen Zonen scheinen die Grenzen zwischen dem Dies- und Jenseits von seltsamer Durchlässigkeit. Der allgewaltige Ozean und gespenstische Felsformationen befeuern die Vorstellungskraft. Einer der magischsten Plätze an diesem "Ende der Welt" (Finis terrae) ist die Bucht von Audierne. Zum Atlantik hin weit offen, erstreckt sie sich zwischen zwei berüchtigten Felsenkaps: im Norden die Pointe du Raz, im Süden die Pointe de Penmarc’h.<p>Und an diesem südlichen Ende der Bucht, in ihren einsamen Dünenwällen, findet sich ein uralter Kultplatz. Davon zeugen Funde aus der Latènezeit, aber auch Statuetten eines gallo-römischen Venus-Kultes. Mönche aus Irland haben den heidnischen Boden im Frühmittelalter christianisiert.<p>
Kalvarienberg
<p>Im 15. Jahrhundert wurde an diesem Ort die Kapelle Notre-Dame-de-Tronoën errichtet (im Volksmund "Dünenkathedrale"), und neben dieser der älteste "Calvaire" (Kalvarienberg) der Bretagne. Dabei handelt es sich um ein imposantes Skulpturenwerk, gemeißelt aus Granit. Zwei übereinanderliegende Friese mit Reliefs und freistehenden Figuren umlaufen den Sockel; an der Spitze ragt die Kreuzigungsgruppe in den weiten Himmel. Die Steine erzählen die Pas-
sion Jesu und einige Szenen aus seinem Leben. Sprechende Steine, zum Teil vom Salz zersetzt, und vom ikonographischen Programm des katholischen Kanons etwas abweichend: die Jungfrau Maria mit praller, entblößter Brust und offenem Haar entspricht eher einer keltischen Meerjungfrau denn bi-blischer Typologie.<p>Das mächtige keltische Erbe gab dem bretonischen Katholizismus eine spezifische Prägung. Man verehrt Hunderte Schutzheilige, setzt christliche Kreuze auf heidnische Menhire, verbindet katholische Riten mit regionaler Kultur. Doch diese Form der Religiosität werde in Zeiten allgemein rückläufiger Katholizität auf ein Element der Folklore reduziert; Kultus und Kultur fielen zusehends auseinander. So lautet der Befund bretonischer Wissenschafter aus dem Jahr 2011 (Studie "Requiem für den bretonischen Katholizismus?").<p>Wie immer: Der Calvaire von Tronoën, dieses christliche Monument wider den Aberglauben, kündet von der Erlösung, der Auferstehung aller Toten. Bleibt nur die Frage: Wer, inmitten dieser menschenleeren Dünenzüge, war ursprünglich Adressat der österlichen Botschaft? Die jährliche Prozession ("Pardon") jedenfalls erhält neuerdings "sportlichen" Zulauf: Nur ein Kilometer trennt den Kalvarienberg von der tosenden Brandung des Ozeans, wo sich Spitzensurfer in ihren Künsten messen. Und so mancher von ihnen findet sich ein beim Pardon - um sein Brett für die rasende Fahrt weihen zu lassen . . .
Ingeborg Waldinger, Romanistin und Germanistin, ist Redakteurin im "extra" der "Wiener Zeitung" und literarische Übersetzerin.