Es ist offenkundig, dass die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen europäischen und nationalen politischen Institutionen atemberaubend schnell zugenommen hat. Im Herbst 2008, nach dem Zusammenbruch der Lehman Brothers, wurden in allen Staaten der EU Bankenpakete geschnürt, die insgesamt wohl an die 2000 Milliarden Euro heranreichten.
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Dem folgten 2009 in allen EU-Staaten Anti-Rezessionsmaßnahmen, einigermaßen koordiniert, und Streuungen der Wirkungen über nationale Grenzen hinaus wurden in Kauf genommen. Und im Mai 2010 wurden zwei gewaltige Standby-Mechanismen kreiert, einer für Griechenland und einer für andere Länder mit allfälligen Zahlungsproblemen, in der Größenordnung von 860 Milliarden Euro (580 Milliarden davon seitens der EU und 280 Milliarden vom IMF).
Auch in tagespolitischen Kleinigkeiten erkennt man die Dichte der wirtschaftlichen Verflechtung. Im Juni machte ein gar nicht so hochrangiger Vertreter Ungarns eine unbedachte Äußerung, nämlich dass Ungarn so wie Griechenland an der Zahlungsunfähigkeit entlangschlittere. (Dies war bloß innenpolitisch motiviert: die Ungarn sollten sich schon mal auf die Nichteinhaltung zu teurer Wahlversprechen einstellen). Daraufhin schoss für einige Tage der Spread für österreichische Anleihen - also die Zinsdifferenz zu deutschen Staatsanleihen - in die Höhe. Dahinter stand eine Kettenreaktion durchaus plausibler, wenn auch völlig überzogener Überlegungen bei Finanzmarktakteuren: Wenn Ungarn so schlecht dasteht, wird der Forint-Kurs sinken; dann werden Fremdwährungskredite in Ungarn gefährdet sein; das beträfe vor allem auch Töchter österreichischer Banken; dann könnte die Republik Österreich wieder einspringen müssen; also steigt die Risikoprämie für Bundesanleihen.. .
Inzwischen steht die EU in einer doppelten Souveränitätskrise. Erstens werden Schulden von Staaten ("sovereign debt") nicht mehr als risikolos eingestuft, das ließ die Spreads insbesondere der Mittelmeerländer stark ansteigen. Zweitens wurde die Lebenslüge der europäischen Währungsunion schonungslos aufgedeckt, nämlich die Illusion, dass 16 Staaten (mit Estland bald 17) eine gemeinsame Währung haben, aber gleichzeitig alle finanz- und wirtschaftspolitischen nationalen Souveränitätsrechte beibehalten können.
Das geht nicht. Wir Europäer stehen vor der Alternative: aus Blind- und Trägheit das Auseinanderbrechen der Währungsunion passiv zuzulassen - diese Möglichkeit ist keine bloße Phantasterei - oder an der weiteren politischen Verflechtung der Union zu arbeiten. Der Vertrag von Lissabon war ein Fortschritt, aber er reicht bei weitem nicht. Die nächsten Schritte auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa müssen folgen.
Alexander Van der Bellen ist Nationalratsabgeordneter der Grünen.