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Istanbul - An einem Sonntag wurden 200 Studenten der Marmara-Universität in Istanbul, die Kurdisch als Wahlfach belegen wollten, in die Hochschule zitiert. In einem "seltsamen Verhör", so die liberale Zeitung "Radikal", wurden sie gefragt, ob sie das Gesuch aus eigenem Antrieb geschrieben hätten und ob sie noch dazu stünden. Noch größer war die Überraschung, als sie beim Verlassen der Universität von einem Trupp rechter Schläger empfangen wurden. Die Namen der Bittsteller waren zuvor in der Hochschule ausgehängt worden.
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Die Studenten der Marmara-Universität kamen mit Prügel davon. Generell gilt: Wer dieser Tage in der Türkei für sich oder seine Kinder Kurdisch-Unterricht wünscht, steht mit einem Fuß im Gefängnis. Nach den ersten Unterschriftenaktionen, unter anderem in den südostanatolischen Städten Diyarbakir und Van, sprangen die "Kurdisch-Petitionen" von einer Universität auf die andere über, gingen sie praktisch wie ein Lauffeuer durch das Land. Als die Polizei auch an der Hacettepe-Universität in Ankara 400 Studenten in Gewahrsam nahm, fragte die Zeitung "Milliyet": "Wer hat auf den Knopf gedrückt?"
"Ziviler Ungehorsam"
Die Antwort gab am Donnerstag Innenminister Rüstü Kazim Yücelen. Die Petitionen seien eine von der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aus dem Ausland angezettelte Aktion des "zivilen Ungehorsams". Die neue Strategie der PKK bestehe darin, "die kurdische Identität herauszustellen.
Als "Beleg" für eine Fernsteuerung aus dem Ausland führte die Polizeiführung in Istanbul 22 Eltern vor, die Kurdisch-Unterricht für ihre Kinder in der Grundschule beantragt hatten. Die meisten könnten weder lesen noch schreiben. Sie seien von der PKK, einem "aus dem Ausland sendenden Fernsehkanal, der als Sprachorgan der Separatistenorganisation bekannt" sei, beeinflusst worden. Organisiert worden sei das Ganze von einigen Gruppen, die in der Türkei auf dieser Linie aktiv seien.
Dass die Auseinandersetzung um die kurdische Sprache gerade zu Beginn dieses Jahres, das als entscheidend für den angestrebten EU- Beitritt der Türkei angesehen wird, an Heftigkeit zunimmt, dürfte der Regierung in Ankara äußerst ungelegen kommen. Für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ist die Erfüllung der so genannten Kopenhagener Kriterien, der EU-Standards in Sachen Demokratie und Menschenrechte, Voraussetzung.
Zwar hat die Türkei im vergangenen Herbst die Verfassung geändert und will künftig Rundfunk und Fernsehen auch in kurdischer Sprache erlauben. Als Unterrichtssprache bleibt Kurdisch - eine der "Achillesfersen" der türkischen Republik - aber weiterhin tabu. Neben dem sakrosankten Grundsatz der Trennung von Religion und Staat, dem Laizismus, gilt als zweite Säule der Republik die Bewahrung der territorialen Integrität und die Abwehr aller separatistischen Bestrebungen.
"Wir sehen den Gebrauch der Muttersprache als ein menschliches Grundrecht an", sagte der stellvertretende Vorsitzende der selbst vom Verbot bedrohten Hadep-Partei, Osman Özcelik. "Kurdisch ist eine in der Türkei weit verbreitete Sprache, Millionen von Menschen sprechen diese Sprache seit Tausenden von Jahren." Die Forderungen nach Kurdisch-Unterricht würden der Türkei nicht schaden. "Sie werden dabei helfen, die Voraussetzungen für Toleranz zu schaffen." Man könne niemandem das Recht nehmen, etwas zu verlangen, nur weil es gewisse Kreise wie die PKK auch forderten.