Fürsten im Gewande von Landeshauptleuten: Obwohl vieles offenkundig ist, verweigert sich Österreichs Politik einer machtpolitischen Analyse. Machiavelli wäre überrascht.
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Was würde wohl Niccolò Machiavelli, dieser kühle Theoretiker der Macht, der heutigen Generation von Politikern raten: Arrangiere dich mit den wirklich Mächtigen, also jenen, die im Hintergrund die Fäden ziehen, mit den Ländern und Sozialpartnern? Oder: Nutze die Medien für deine Sache, sei es durch Druck oder üppige Inserate? Womöglich sogar: Verprelle niemanden und verteile üppig, auch wenn du wenig hast, denn die Rechnung wird mit einigem Glück ohnehin deinen Nachfolgern präsentiert?
Schwer zu sagen, welcher aktuelle Politikertyp die Sympathien Machiavellis gefunden hätte. Den Klarsprecher mit dem Motto "klare Kante" etwa, einen streitbaren Charakter also, der die unangenehmen Wahrheiten ausspricht und entsprechend handelt? Solche Typen nach Façon des deutschen Altkanzlers Helmut Schmidt etwa oder des aktuellen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück (dem derzeit gerade allerdings ein eher linkes Wahlprogramm sein Image als rechter SPD-Politiker zusammenhauen könnte) findet man in Österreich eher selten.
Klare Ansagen werden hierzulande möglichst vermieden; stattdessen bevorzugen wir die eindeutigen Zweideutigkeiten - auch in der Politik. Ganz sicher hätte dem Autor des "Il Principe" Wolfgang Schüssels Opus magnum zur Jahreswende 1999/2000 gefallen: Dieser kühl kalkulierte Parforce-Ritt über alle Konventionen des bisher politisch Schicklichen hinweg wäre zweifellos ganz nach dem Geschmack Machiavellis gewesen.
Chapeau, Herr Kanzler
Sehr wahrscheinlich würde dieser Theoretiker der Realpolitik auch vor Werner Faymann hochachtungsvoll den Hut ziehen: Wie der aktuelle Kanzler als Wiener Stadtrat begann, sich ein feines Netz an belastbaren Verbündeten in Politik, Medien und Wirtschaft zu knüpfen, dann von den eigenen Genossen in der Wiener SPÖ in die Bundesregierung weggelobt wurde, um nur kurz darauf Kanzler Alfred Gusenbauer in die Wüste zu schicken: Chapeau, das muss dem ewig Unterschätzten erst einmal jemand nachmachen!
Neben dieser strategischen Meisterleistung der Machteroberung verblassen sogar die beiden Archetypen eines hiesigen Machtpolitikers, Michael Häupl und Erwin Pröll, zu hoffnungslos altmodischen Feudalherren vergangener Zeiten. Faymann verleitet durch seine unverbindlich-freundliche Art dazu, unterschätzt zu werden; Pröll und Häupl würde niemand je unterschätzen, sie tragen das Einschüchternde des "Lege dich ja nicht mir an" wie ein Warnschild vor sich her. Auch auf die Idee, dass sie es jemals notwendig haben könnten, unverbindlich-freundlich zu Unbekannten sein, würden diese beiden Politiker niemals kommen. Das "man kann ja nie wissen, wofür es noch einmal gut ist" ist hingegen integraler Bestandteil der Faymann’schen Macht-Strategie.
Die Gründe für die Unterschiede liegen auf der Hand: Faymann ist sich seiner prekären Situation ganz oben auf der Pyramide bewusst; die Beispiele Gusenbauer oder Viktor Klima zuvor, von unzähligen ÖVP-Obleuten vor und nach Schüssel ganz zu schweigen, veranschaulichen deutlich, dass der Platz an der Sonne von ständiger Verdunkelungsgefahr begleitet wird. Theoretisch gilt das auch für Landesfürsten - praktisch jedoch nicht. Häupl oder Pröll müssen niemanden mehr fürchten, ausgenommen die Sorge, dass ihr Reich nach ihrem Abgang dem Untergang geweiht sein könnte.
Ob sie diese Urangst dynastischer Machthaber - und was sonst als familiäre Zusammenschlüsse im weiteren Sinne wären denn Wiens SPÖ und Niederösterreichs ÖVPt? - tatsächlich umtreibt, bleibt abzuwarten. Noch jedenfalls haben beide, obwohl längst über sechzig, es verabsäumt, die Weichen für allfällige Nachfolger zu stellen.
So ist es auch nur eine scheinbare Paradoxie, dass die politischen Machtverhältnisse dort am eindeutigsten sind, wo es realiter am wenigsten zu verteilen gibt. Auf lokaler Ebene sorgt schon die Konstruktion der Gemeindeverfassung dafür, dass fast alle Macht in den Händen des Bürgermeisters liegt. Und niemand profitiert von dieser mehr als der Wiener Landeshauptmann, der gleichzeitig und vor allem als Bürgermeister regiert.
Auf Landesebene verhält es sich nicht viel anders. Auch hier ist Politik in aller Regel eine überschaubare Angelegenheit - für die Akteure wie auch für die Bürger. Das fördert - im Verein mit tendenziell zwar bröckelnden, aber doch nach wie vor wirkmächtigen strukturellen Mehrheitsverhältnissen - die Etablierung monokratischer Machtverhältnisse. Der Fürst feiert auf diese Weise im Gewand des Landeshauptmannes seine Wiederauferstehung. Dass diese sich zwischenzeitig als wohlwollende Landesväter (mittlerweile sogar als Landesmütter) inszenieren, ist dem überragenden Trend der Zeit geschuldet, der Politik in normalen Zeiten als unerschöpfliche Verteilungsmaschinerie begreift. Die disziplinierende Rolle des Furcht einflößenden Herrschers ist nicht für die normal sterblichen Untertanen konzipiert, sondern allenfalls für unbotmäßige Untertanen, die den absoluten Machtanspruch des Einen herausfordern, reserviert.
Der Fürst als Freund
Machiavelli hätte diese Inszenierung von Politikern als nette Burschen von nebenan wohl mit einem leicht spöttischen Heben der Augenbrauen kommentiert. Der Fürst als Freund, ein Herrscher zum Anfassen, mit dem man sogar, wenn es sich im Wahlkampf ergibt, ein Bier trinken kann, entspricht nicht seinem Erfahrungshorizont als Machtpolitiker. Aber wenn es denn funktioniert, hätte der Florentiner Renaissance-Pragmatiker wahrscheinlich nichts dagegen einzuwenden gehabt. Erfolg ist schließlich das einzige Qualitätskriterium, dem sich Machiavelli in seinem Handbuch für erfolgreiche Machterhaltung bzw. -eroberung zu unterwerfen bereit war. Keine Rede von Metaphysik oder Moral. Darin und in seiner illusionslosen Betrachtung der menschlichen Natur liegt auch die große Zäsur, die das Nachdenken über Politik in eine Zeit vor und nach Machiavelli unterscheidet.
Je höher man die politische Ebenen hinaufklettert, desto verschwommener stellen sich die Machtverhältnisse dar. Zu erkennen, wer etwa im Bund tatsächlich das Sagen hat, fällt auch langjährigen Beobachtern schwer. Sicher, es gibt SPÖ und ÖVP, die beiden altehrwürdigen Regierungsparteien, die der Politik nach 1945 ihren Stempel aufgedrückt haben. Aber regiert die SPÖ wirklich das Land? Oder die ÖVP? Zumal ja beide nie monolithische Machtblöcke waren. Es gibt die Gewerkschafter, die Arbeiterkämmerer - und vor allem die Wiener SPÖ. Und in der ÖVP die Gewerbetreibenden, die Bauern, die Beamten - und es gibt die Industrie und Raiffeisen; vor allem diese Organisation betrachten viele geradezu als Chiffre für versteckten Einfluss.
Ein Minister ist in dieser Republik kein eigenständiger Faktor, zumindest nicht von vorneherein (er war es entweder vorher schon oder kann es sich im Amt allenfalls erarbeiten). Deswegen wurden Gewerkschafter jahrzehntelang Sozialminister, Wirtschaftskämmerer Wirtschaftsminister und Bauernvertreter Agrarminister. Es war stets wichtiger, woher man kommt, als wer man als Person ist. Aus diesem Grund passierte es auch immer wieder, dass öffentlich nahezu unbekannte Personen zu Ministerehren kamen. Gerald Klug ist das jüngste Beispiel für diesen Mechanismus.
Machiavelli würde daraus wohl den naheliegenden Schluss ziehen, dass Minister keine wirklich mächtigen Personen in diesem Land sind.
Der Unterschied zur Landesebene ist geradezu frappierend: Landeshauptmann zu werden gilt vielen ehrgeizigen Politikern als höchstes Ziel; keine Landespartei würde irgendwen aus ihren Reihen zum Landeshauptmann küren. Diese Position, und kein Minister oder Kanzler, verkörpert die wahre Macht in diesem Land. Machiavelli hätte mit dieser Interpretation seine liebe Not gehabt. Andererseits: Folgt man der radikalen Reduktion von Politik nach Carl Schmitt auf "wer wen", gehorcht diese Rangordnung durchaus einer inneren Logik. Die Länderfürsten einer Partei bestimmen, wer auf dem Schleudersitz des Bundesparteichefs Platz nehmen darf (oder muss).
Konsensdemokratie
Im modernen Parlamentarismus kommt man mit dem Analysekonzept "wer wen" hingegen nicht wirklich weiter, um Machtstrukturen zu erhellen. Nicht, weil man die auf nationaler und supranationaler Ebene hochgradig kompliziert gewordene Politik nicht länger auf diesen Grundgegensatz von Mächtigen und Machtlosen reduzieren könnte, sondern weil uns schon allein diese Unterscheidung vulgär erscheint. Viel lieber zeichnen wir Politik als ewigen Überzeugungsprozess, bei dem sich am Ende - ein bisschen guten Willen vorausgesetzt - alle der Einsicht in die Notwendigkeiten fügen. Das nämlich ist der Traum der Konsensdemokratie: Die Zustimmung aller zu allem. Politik wird so zum kontinuierlichen Verhandlungsauftrag zwischen Parteien und Interessen.
Die offene, ungeschminkte Machtanwendung ist in diesem Drehbuch parlamentarischer Verhandlungsdemokratie nicht vorgesehen, zumindest nicht in ihrer oberflächlichen Form. Natürlich existiert sie dennoch, das ergibt sich schon aus der arithmetischen Zusammensetzung der Vertretungskörper, die der Mehrheit das Recht gibt, unter Einhaltung bestimmter Grenzen über die Minderheit zu entscheiden. Doch auch dem setzen Länder und Sozialpartner Grenzen, indem sie - im Verbund mit der Ministerialbürokratie - die Kompromisse schon ausverhandeln, bevor die Öffentlichkeit überhaupt etwas von einem Konflikt erfährt.
Gegen ein solches Prozedere und gegen die Verflüchtigung eindeutiger Machtstrukturen wäre eigentlich nichts einzuwenden, bliebe dabei nicht die klare Zuordnung politischer Verantwortung auf der Strecke. Auf welcher Grundlage sonst sollen die Wähler aber an der Wahlurne ihr Urteil sprechen?
Walter Hämmerle, geboren 1971, Studium der Politikwissenschaft; seit 2002 bei der "Wiener Zeitung", seit 2009 stv. Chefredakteur.