Der Nahost-Experte Henner Fürtig warnt vor Hatz auf die Islamisten.
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"Wiener Zeitung": Sind die Muslimbrüder nun für das demokratische Projekt verloren? Immerhin wurde mit Mohammed Mursi ihr Präsident gestürzt, der freie Wahlen gewonnen hatte?Henner Fürtig: Das ist abzuwarten. Die Muslimbruderschaft ist ja eine außerordentlich erfahrene Organisation, die es seit 85 Jahren gibt. Nun hat sie das erste Mal Regierungserfahrungen gemacht, und es stellt sich die Frage, wie sie damit umgehen wird. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder sie lernt aus ihren Fehlern oder sie wittert allenthalben Verschwörungen.
Welche Fehler müssten sich die Muslimbrüder eingestehen?
Sie wollten ihr Programm ohne Rücksicht auf Verluste voll und ganz umsetzen, haben die Suche nach Kompromissen vollkommen aus den Augen verloren und den politischen Gegner nicht mitgenommen. Das ist gescheitert und daraus können sie Schlüsse für die Zukunft ziehen.
Und wie würden die Verschwörungen lauten?
Dass die Muslimbrüder sagen: Egal, welche Bedingungen herrschen, und seien es auch demokratische - wenn eine islamistische Regierung an die Macht kommt, wird mit allen Mitteln versucht, sie wieder zu entfernen. Und das wird immer so sein. Wenn sich diese Auffassung durchsetzt, dann ist Gewalt vorprogrammiert.
Wie könnten die Muslimbrüder nun in den politischen Prozess eingebunden werden?
Zu allererst geht es darum, die Verfolgung der Muslimbrüder, die sich jetzt abzeichnet, möglichst umgehend einzustellen. Man hat ja etwa Mursi festgesetzt und Haftbefehle gegen führende Muslimbrüder ausgestellt. Das mag noch irgendwo gerechtfertigt erscheinen, fraglich bleibt es. Aber man kann jetzt nicht auf eine Hatz auf Muslimbrüder im ganzen Land aus sein. Denn dann treibt man sie geradezu in den Untergrund und in die Gewalt. Die neue Führung sollte jetzt auch nicht überhastet Neuwahlen ausschreiben, sondern endlich eine gesetzliche Grundlage für die politische Befriedung der Gesellschaft schaffen. Es sollte eine Verfassung verabschiedet werden, die eine legale Grundlage für das politische Zusammenleben darstellt. Man muss überlegen, wie man die politischen Lager in einen Wahlprozess einbindet, ihnen Gelegenheit gibt, Programme zu formulieren und sich zu organisieren. Das ist ja alles noch nicht passiert.
Neben den Muslimbrüdern gibt es ja die noch viel radikaleren Salafisten. Wie schätzen Sie deren Rolle ein? Ist mit ihnen ein demokratischer Staat zu machen?
Die Salafisten waren ein Teil des politischen Kräftespektrums, das zum Sturz Mursis geführt hat. Sie haben sich ja überraschenderweise neutral verhalten beziehungsweise zu erkennen gegeben, dass sie das Verhalten der Armee billigen werden. Das zeigt, wie tief die Kluft zwischen Salafisten und Muslimbrüdern ist. Dass die Salafisten politisch agieren können, haben sie auch bewiesen, als sie bei den letzten Parlamentswahlen 20 Prozent der Stimmen bekamen. Sie werden eine politische Kraft bleiben. Und solange sie politische Mittel und keine Gewalt anwenden, sind sie ein vollkommen legitimer Part des ägyptischen Politsystems.
Welche Auswirkungen haben die Ereignisse in Ägypten auf das Projekt des politischen Islams im arabischen Raum?
Es ist zweifellos ein Rückschlag, weil dieses Experiment nun als gescheitert angesehen werden muss. Aber es waren nur wenige Monate und das Projekt des politischen Islams besteht schon seit 85 Jahren.
Zur Person
Henner Fürtig leitet das in Hamburg angesiedelte, renommierte Giga-Institut für Nahost-Studien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen soziale und politische Transformationen im arabischen Raum, zudem beschäftigt er sich seit Jahren mit Programmen und Strukturen des politischen Islam.