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Die Erinnerung wird immer wieder philosophisch bedacht und literarisch gestaltet - diese Rückblicke in die Vergangenheit öffnen Fenster zur vergehenden Zeit.
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Solange unser Gedächtnis mitmacht, sollten wir ein Vertrauensverhältnis zur Erinnerung pflegen, die vor allem dann wichtig wird, wenn sie uns abhanden kommt und die Aussicht besteht, dass wir, wie so viele andere brave Leute auch, im Heim landen, wo Verwirrungen an der Tagesordnung sind und man sich die Zeit schon mal mit Vergessen vertreibt. Die Erinnerung, die dazu beiträgt, unser wackeliges Ich zusammenzuhalten, ist eines unserer Fenster zur Zeit, von dem aus viel zu sehen ist, vor allem auch das, was möglicherweise gar nicht stattgefunden hat oder sich zur Verklärung anbietet.
"Im unermesslich weiten Haus des Erinnerns - dort drinnen lebt mir Himmel und Meer und Erde und alles, was ich von ihnen je erfahren, nur jenes nicht, was ich vergessen habe", schrieb der Philosoph und Kirchenvater Augustinus und fügte hinzu: "Dort drinnen begegne ich mir selbst, erinnere mich meiner selbst und was und wann und wo ich tätig war und was ich, da ich tätig war, empfand. . ."
Die Erinnerungen kommen und gehen, sie sind so frei, wie sie frei sein können; zugleich erweisen sie sich als unverzichtbar für das lebenslange Gespräch, das der Mensch mit sich selbst führt. Obwohl der Welt unserer Erinnerungen etwas unverzichtbar Geheimnisvolles anhaftet, ist der Erkenntnisstand in Sachen Gedächtnis ungleich größer geworden. Man geht heute davon aus, dass Erinnerungsleistungen in einem ähnlichen funktionalen Zusammenhang stehen wie der Gesamtorganismus des Menschen, der seine Feindifferenzierung über einen unendlichen langen Zeitraum als Naturprozess erlebt hat, dem im Nachhinein dann eine erstaunlich vielfältige Effizienz bescheinigt werden konnte.
Archiv im Gehirn
An Stelle des altehrwürdigen Schöpfergottes ist die Evolution getreten, von der man vor allem eines erwartet: die Anwendung eines zweckgerichteten Gestaltungsplans, der sich an internen Nützlichkeitskriterien und externen Überlebensmechanismen orientiert. So scheint sich das Gedächtnis erst spät, und zwar im Zuge einer generellen Höherentwicklung des menschlichen Gehirns, ausgebildet zu haben.
Die stetige Zunahme an Komplexität erforderte die Schaffung zentraler Steuerungsinstanzen, von denen das Selbstbewusstsein die wichtigste ist. Der Mensch wurde zum Ich, das sich, im Hinblick auf seine werte Befindlichkeit, ständig befragen, bestätigen und überprüfen muss - was ohne Archiv, das zugleich identitätsstiftende Aufgaben wahrnimmt, nicht möglich erscheint. Auf diese Weise könnte also eines längst versunkenen Tages das Gedächtnis ins Spiel gekommen sein, das sich im Lauf der Zeit seinen Eigenwert erarbeitet und verfeinert hat.
Erinnerungen werden noch wichtiger, wenn man weiß, dass unser gesamter Wahrnehmungsapparat vergangenheitslastig ist. Signale, die über die Sinne eintreffen, brauchen ihre Zeit, bis sie bemerkt werden. Zwar ist diese Zeit nur in winzigsten Einheiten messbar, aber sie erweist sich als unumgänglich - so wie sich die Zeit insgesamt als unumgänglich für die Bewusstseinsstruktur des Menschen erwiesen hat. "Das Zeitintervall zwischen dem Beginn eines Sinnesreizes und seiner bewussten Wahrnehmung" beträgt "zwischen einer halben und einer Sekunde", schreibt der Neurobiologe Ernst Florey. "Versucht man eine Interpretation der relevanten Geschehnisse, dann kommt man zu dem Schluss, dass gegenwärtige, bewusste Wahrnehmung ein vergangenes Ereignis zum Inhalt hat und dass die gesamte wahrgenommene Welt der Vergangenheit angehört, die im Moment der subjektiven Gegenwart gar nicht (mehr) existiert."
Die Wiederholung
Gerade deshalb ist Erinnerung für die Literatur unverzichtbar. Die persönlichen Umstände des Erzählers werden zur Geschichte, die sich, anders als es das Realitätsprinzip erlaubt, variieren und anhalten, ja zur Zukunft hin fortschreiben lässt. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard interessierte sich für den Wahrheitsanspruch, den das Erinnern, das ja ernst genommen werden will, beanspruchen darf. Dabei bedient sich Kierkegaard seines liebsten Stilmittels, der Ironie, die das Betriebsgeheimnis der Erinnerung auf eine eingängige Formel bringt: "Wer möchte sich denn wünschen, eine Gedächtnisschrift zu sein auf das Vergangene? (. . .) Hätte nicht Gott selber die Wiederholung gewollt, die Welt wäre nie entstanden (. . .) Wer die Wiederholung will, ist im Ernst gereift. Dies ist mein Separat-Votum, welches zugleich besagt, es sei keineswegs des Lebens Ernst, auf dem Sofa zu sitzen und in den Zähnen zu stochern - und etwas zu sein, z.B. Justizrat; oder gemessen durch die Straßen zu wandeln - und etwas zu sein, z.B. Wohlehrwürden."
Mit Friedrich Nietzsche, dem Philosophen, der ein Dichter war, nähern wir uns der sogenannten Moderne. Das Bewusstsein des Menschen, zuvor noch belichtet und beschwert im deutschen Idealismus, der dem Wissen viel, wenn nicht gar alles zutraute, ufert nun immer mehr aus, was vor allem eine quantitative Dimension hat. Das aufgedunsene Bewusstsein verliert an Halt, es zerfasert an den Rändern und erklärt sich in seiner dunklen Mitte schließlich für unglücklich.
"Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissensteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heißt. Durch dieses Rumpeln verrät sich die eigenste Eigenschaft dieses modernen Menschen: der merkwürdige Gegensatz eines Inneren, dem kein Äußeres, eines Äußeren, dem kein Inneres entspricht, ein Gegensatz, den die alten Völker nicht kennen."
Die wohl berühmteste, sicher aber opulenteste Erinnerungsleistung, die in der Literatur zustande gebracht wurde, verdanken wir Marcel Proust und seinem Epos "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". In diesem gewaltigen, in sich verschlungenen Roman benutzt der Autor seine Erinnerungen als Fährschiff, das ihn in die Vergangenheit führt; er gibt sich einer Reise hin, die von selbst abzulaufen scheint und doch steuernder Kunstgriffe bedarf. Erinnerungen nämlich sind störrisch, sie lassen sich nicht beliebig abrufen. Die Kunstgriffe müssen daher mit Bedacht gesetzt werden; man sollte sie an scheinbaren Kleinigkeiten festmachen, die in einem wahren, wenn auch meist listig versteckten Verhältnis zum Großen und Ganzen stehen.
Beschwörungen
Proust, der sich in einem problematischen Autorenleben zu einem Virtuosen des Erinnerns aufschwang, hält sich insgeheim an das Programm des Grafen von Eichendorff, der in seinem berühmtesten Vierzeiler das Zauberwort beschwor, das die Welt zum Klingen bringt. "Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit", notierte Proust. "Vergebens versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Gegenstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig vom Zufall ab . . ."
Der russische Schriftsteller Vladimir Nabokov, der erst in den USA zum Erfolgsautor wurde, hielt seine Erinnerungen für so wichtig, dass er seiner Autobiographie den programmatischen Titel "Sprich, Erinnerung, sprich" verpasste. Herausgekommen ist dabei ein Memoirenwerk, das weit, sehr weit zurückreicht: "Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und der platte Menschenverstand sagt uns, dass unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist (. . .) Anfangs merkte ich nicht, dass die Zeit, die auf den ersten Blick so grenzenlos scheint, ein Gefängnis ist. Wenn ich meine Kindheit erkunde (was nahezu der Erkundung der eigenen Ewigkeit gleichkommt), sehe ich das Erwachen des Bewusstseins als eine Reihe vereinzelter Helligkeiten, deren Abstände sich nach und nach verringern, bis lichte Wahrnehmungsblöcke entstehen, die dem Gedächtnis schlüpfrigen Halt bieten (. . .)."
Der Lauf der Zeit
In seinem neuen Buch, "Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen", beschreibt Rüdiger Safranski die vielfältigen Aspekte unserer Liaison mit einer großen Unbekannten, die sich, trotz raffinierter Messmanöver und aller Totschlagversuche, die an ihr verübt werden, nicht wirklich in die Karten schauen lässt. Dabei beginnt er, interessanterweise, mit der Langeweile, durch die "man besonders gut erkennen kann, was mit den Menschen los ist, wenn sonst nichts los ist". In den weiteren Kapiteln geht es (u.a.) um die Kunst des Anfangens; um die Sorge, die sich als eine Art vorauseilender Gehorsam in der Zeit begreifen lässt; um Lebenszeit, Echtzeit und Eigenzeit.
Auch der kosmischen Zeit, sicher nicht dem anschaulichsten Gegenstand, stellt sich Safranski, wofür er ein Sonderlob verdient. Zurück auf etwas sichererem Terrain, widmet er sich dem Fragespiel, das im Bewusstsein inszeniert wird, und nennt Antworten, die in den Archiven von Literatur und Philosophie zur Ausleihe bereit liegen. Schließlich darf die Ewigkeit nicht fehlen, mit der wir umgehen, als könnte sie zu guter Letzt doch mehr zu bieten haben als den einen Sehnsuchtsort, an dem dereinst, wenn die Nachspielzeit vorbei ist, eine Willkommenskultur zelebriert wird, vor der jede Kritik verstummt.
Festzuhalten bleibt, dass die Zeit zwar erhaben ist über unsere Annäherungsversuche, sich in ausgesuchten Momenten aber gesprächsbereit zeigt: "Der zugrunde liegende Gedanke ist der: Damit etwas im Sein bleibt, muss es in einem Bewusstsein sein. Sonst ist es, als wäre es nie gewesen.
(. . .) Alles vergeht, aber nur im Menschen wird Vergehen als solches erfahren, und damit kommt ein Nichts ins Spiel, das es nur hier im Bewusstsein gibt, und nicht draußen in der Welt."
Rüdiger Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Hanser Verlag, München 2015, 272 Seiten, 24,90 Euro.
Otto A. Böhmer, geboren 1949, lebt als Schriftsteller in der Nähe von Frankfurt am Main.