Wien - Mehr als zwei Millionen Tschechen deutscher Muttersprache sind nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben und enteignet worden. Schätzungen über die Zahl der Todesopfer, die der erzwungene Massenexodus direkt und indirekt gefordert hat, reichen von 40.000 bis über 200.000. Nach Jahrzehnten des Schweigens wäre nun die Möglichkeit für einen Dialog mit der Republik Tschechien gegeben. Doch der will nicht so recht in Gang kommen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 24 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es sind einige problematische Fragen, die derzeit die österreichischen Beziehungen zu seinem nördlichen Nachbarn Tschechien schwierig gestalten. In der medialen Debatte an erster Stelle steht die Frage der Inbetriebnahme des umstrittenen Kernkraftwerks Temelin, das trotz erbitterter österreichischer Proteste demnächst angeworfen werden soll. Auch dass sich die Tschechen als einziger EU-Beitrittswerber hinter die Sanktionen der EU-14 stellen, trägt nicht gerade zu einer Entspannung des österreichisch-tschechischen Verhältnisses bei.
Eine weitere ungelöste Frage ist dabei in den letzten Monaten beinahe völlig aus den heimischen Medien verschwunden: Die auf die Vergangenheit verweisende Diskussion der Beibehaltung beziehungsweise Abschaffung der sogenannten "Benes-Dekrete". Zur Erinnerung: Noch im Herbst 1998 war im österreichischen Parlament heftigst über dieses Thema debattiert worden. Der damalige FP-Parteichef Jörg Haider sorgte dabei mit der Aussage, "die Entschädigung der Sudetendeutschen ist jener der Holocaust-Opfer gleichzustellen", für einiges Aufsehen im Inland und für Proteste aus Prag.
Tiefpunkt
Im Mai dieses Jahres erfuhr dann der österreichisch-tschechische Dialog seinen absoluten Tiefpunkt: Die neue österreichische Regierung erwäge, diejenigen Tschechen, die im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter auf österreichisches Gebiet deportiert worden seien, von Entschädigungszahlungen auszunehmen, schrieb die auflagenstärkste Prager Tageszeitung "Mlada fronta dnes" und forderte den Abzug des tschechischen Botschafters aus Wien. Dabei war schon im Februar der diplomatischen Vertretung Wiens in Prag mitgeteilt worden, dass vereinbarte Expertengespräche zur Relevanz der Benes-Dekrete auf Eis gelegt seien: Man halte die derzeitige Situation für den Beginn eines solchen Dialogs für "unpassend", lautete die Begründung in Anspielung auf die EU-Sanktionspolitik.
Auch der Diskussionsprozess zwischen der Tschechischen Republik und Deutschland, wo sich vor allem der Freistaat Bayern für die Interessen der Sudetendeutschen einsetzt, ist mittlerweile zum Stillstand gekommen. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sich, so scheint es, mit den Beteuerungen seines Amtskollegen Milos Zemann zufriedengegeben, dass die Benes-Dekrete als "rechtlich erloschen" zu betrachten seien und ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte darstellten. Schröder hat erst unlängst dazu festgestellt, dass die Bundesregierung im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen die Vertreibung der Deutschen nicht thematisieren wolle.
Das österreichische Aussenministerium will ebenfalls die EU-Osterweiterung nicht mit dieser Frage belasten. Allerdings sei das Thema damit noch nicht endgültig vom Tisch, so ein hochrangiger Diplomat gegenüber der "Wiener Zeitung". Es könne doch nicht angehen, dass Gesetze, die den Grundwerten der EU zuwiderliefen, im "aquis communautaire" Platz fänden.
Fraglich sei vor allem die tschechische Position, dass zwar die Gültigkeit der Benes-Dekrete bestritten werde, an eine vollständige Abschaffung aber auch nicht zu denken sei, da dies einem unzulässigen Eingriff in die Nachkriegsordnung gleichkomme.
Bei den Benes-Dekreten handelt es sich um exakt 143 Rechtsakte, die vom ehemaligen tschechischen Präsidenten Edvard Benes 1945/46 erlassen wurden. Zwölf dieser Dekrete schufen die Rechtsgrundlage für die Enteignung und Vertreibung der deutschsprachigen Minderheit in den Jahren 1945 bis 1948.
Von diesen zwölf sind bis heute sieben noch nicht aufgehoben worden. Es sind dies die Verordnungen über die Konfiskation landwirtschatlichen Eigentums, die kollektive Ausbürgerung der Deutschen und Ungarn, der Auflösung der deutschen Universitäten in Prag und Brünn, die vollständige Enteignung der Deutschen und Ungarn und vor allem das sogenannte "Amnestiegesetz", das begangene Gewaltakte im Zusammenhang mit den Vertreibungen straffrei stellt.
Die Vertreibungsumstände
Erste Gewaltaktionen gegen Sudetendeutsche fanden drei Tage vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 statt. Sogenannte "Nationalausschüsse" und "Volksgerichte" wurden von der tschechischen Exilregierung und damit von Benes damit beauftragt, den gesamten Behörden- und Verwaltungsapparat von Nationalsozialisten und "Kollaborateuren" zu säubern. Tatsache ist aber auch, dass in diesen Tagen die Phase der "wilden Vertreibungen" begann, wobei Sudetendeutsche, gleich welcher politischer Vergangenheit und welcher Funktion während des NS-Regimes, wahllos zusammengetrieben, misshandelt, getötet, in Lager verbracht oder über die Grenze getrieben wurden. Dabei kopierten die tschechischen Revolutionsgardisten Elemente des nationalsozialistischen Terrors. So mussten Sudetendeutsche gut sichtbare Abzeichen an der Kleidung tragen, viele wurden in explizit als "Konzentrationslager" ausgewiesene Orte transportiert. Die meisten NS-Funktionäre hatten sich zu dieser Zeit freilich schon längst in Richtung Westen abgesetzt.
Nachdem die Alliierten in der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 den stattfindenden "Bevölkerungstransfer" prinzipiell gebilligt hatten, begann die Phase des mehr oder weniger "geregelten" Abschubes, der die Verstoßenen per Zug an die tschechisch-deutsche Grenze beförderte und dort ihrem Schicksal überließ.
Hitlers Handlanger
Zweifellos waren die "arischen" Sudetendeutschen während der Nazi-Herrschaft gegenüber den "slawischen" Tschechen privilegiert, und, nicht wenige haben als Mitglieder der Waffen-SS oder in sonstigen Funktionen (wie dies auch in Österreich der Fall war) Hitlers Schreckensherrschaft mitgetragen. Was den Sudetendeutschen aber zum Verhängnis werden sollte, war, dass sie im Endeffekt gleichsam als schnell greifbarer Sündenbock und Symbol für Hitlers Verbrechen während der Jahre 1939 bis 1945 herhalten mussten. Nur so ist die unverhältnismäßige Grausamkeit, mit der vorgegangen wurde, erklärbar.
Zu hoffen bleibt, dass in den nächsten Monaten doch noch ein Dialog über dieses dunkle Kapitel der tschechisch-deutschen Vergangenheit zustande kommt. Jüngste Signale aus Prag, wo man sich in letzter Zeit zu einer kritischeren Beurteilung der Person Benes durchgerungen hat, lassen hoffen.