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Verhältnismäßigkeit unter mäßigen Verhältnissen

Von Peter Moeschl

Gastkommentare

Das Interesse des Utilitarismus besteht vornehmlich in der Kalkulation und weniger in der Reflexion. Nicht zuletzt findet das in der Politik seinen Niederschlag.


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Es musste so kommen. Kaum beginnen die Quarantänemaßnahmen in der Corona-Krise zu greifen, regt sich Widerstand gegen die damit verbundenen Restriktionen. Von vielen werden diese Maßnahmen als überzogen, autoritär und undemokratisch empfunden - und das ist durchaus verständlich. Schließlich sind Ausnahmeregelungen, wie sie uns in der Seuchenbekämpfung zurzeit alternativlos scheinen, Ausnahmen von der demokratischen Ordnung, die sogar die Verfassung tangieren. Und das natürlich auch dann, wenn die Verfassung selbst Vorsorge zu treffen versucht, indem sie vorweg - durch ein intrakonstitutionelles Notstandsrecht etwa - bemüht ist, einen drohenden Ausnahmezustand formal einzuhegen.

In diesem Kontext hat auch der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble davor gewarnt, das menschliche Leben als oberstes ethisches Kriterium absolut zu setzen und damit zur alles dominierenden Grundlage für Ausnahmebeschränkungen zu machen. Er hat dafür viel Zustimmung erhalten, besonders aus den Reihen der Liberalen und der Grünen. Und natürlich auch von Seiten der Wirtschaft. Es gehe, so heißt es, im gesamten gesellschaftlichen Leben um Verhältnismäßigkeit, denn wir seien als gesellschaftliche Wesen per definitionem Individuen, die in und aus Verhältnissen leben. Das gelte nicht nur in Bezug auf unsere individuellen Wünsche und Ziele, sondern auch für die selbstbestimmt zu gestaltenden Voraussetzungen unseres Zusammenlebens, wie sie nicht zuletzt die Anliegen um die allgemeine Gesundheit und die dafür geschaffenen und zu schaffenden öffentlichen Einrichtungen darstellen. Wenn es also, wie derzeit, zu einer Kollision grundlegender Interessen komme (biologisches versus wirtschaftliches Überleben), so sei eine aktuelle gesamtgesellschaftliche Abwägung unumgänglich und am besten auf demokratischem Wege zu bewerkstelligen.

Quantifizierende Bemessung der gegebenen Verhältnisse

Wer wollte solcher Argumentation widersprechen? Letztlich bekennt sie sich doch nur zu verantwortungsvollem politischen Entscheiden - und das sogar inmitten unauflösbarer Dilemmata. Sie nimmt die Probleme ernst und ist dennoch nicht bloß der rigide Ausdruck einer vorgefassten ethischen Gesinnung. Wer sich also zu solch einer aus Nützlichkeitserwägungen für alle entstandenen Verantwortungsethik im Sinne Max Webers bekennt, bleibt, so die Vorstellung, weltoffen und gewiss auch dem, wie es heißt, "besseren Argument" zugänglich.

Ohne sich hier sogleich in die jahrhundertealte Ethikdebatte zwischen Utilitarismus und Deontologie, zwischen Nutzen und Pflicht, zu verlieren, scheint es dennoch bedeutsam, das gerade in entwickelten Demokratien immer mehr - hauptsächlich unterschwellig - an Einfluss gewinnende utilitaristische Konzept von Seiten der gelebten Praxis her zu hinterfragen. Dabei könnte als Leitbegriff die nicht nur bei Juristen beliebte und von diesen sogar zu einem Prinzip erhobene Verhältnismäßigkeit dienen. Hier zeigt sich, dass dieser Begriff heute, im Rahmen allgegenwärtiger statistischer Bewertung, eine gewisse Bedeutungsverschiebung, jedenfalls aber eine etwas andere semantische Gewichtung erfährt.

Auffällig ist nämlich, dass viele - und immer mehr -, die mit dem Begriff der Verhältnismäßigkeit operieren, an einem Maß, an einer quantifizierenden Bemessung der gegebenen Verhältnisse interessiert sind und immer weniger an der konkreten Spezifik der Verhältnisse selbst, an der Erforschung ihrer Ursachen und Wirkungen, ihrer Entwicklungsdynamiken und Kontexte. Quantitatives Bewerten und Vergleichen gewinnt immer mehr an Bedeutung und lässt selbst für die intimen Bereiche der Einzelnen algorithmisch gestützte Indizes und Scores entstehen - man denke nur an die keineswegs unproblematischen Lebensqualitätsscores in der Medizin, die auch eine Entscheidungsgrundlage für die Sterbehilfe bieten sollen.

Dieser Trend braucht aber nicht zu verwundern. Schließlich geht es dem Utilitarismus, ebenso wie dessen moderner Variante, dem Konsequenzialismus, seit jeher um "das größtmögliche Glück" beziehungsweise "den größtmöglichen Nutzen für die größte Zahl". Das allein zeigt schon, dass das Interesse des Utilitarismus vornehmlich in der Kalkulation und weniger in der Reflexion besteht. Und nicht zuletzt findet das in der Politik seinen Niederschlag. So wird auch von politischer Seite häufig argumentiert, als ginge es in einer demokratischen Gesellschaft bloß um eine "gerechte" - soll heißen: gleiche - Verteilung des aus den bestehenden Verhältnissen geernteten Gewinns und nicht vielmehr um Grundlegenderes, nämlich um die Herstellung neuer, besserer und gerechter Verhältnisse, ökologisch wie sozial.

Kaputtgesparte Gesundheitssysteme

Die Ausnahmesituation macht es jetzt kenntlich: Wenn heute in der Corona-Krise manche Länder gezwungen sind, die zu behandelnden Patienten nach einem Triageverfahren der Lebensbewertung (aus) zu sortieren, liegen die damit verbundenen Probleme nicht einfach an den, gegenüber den einzelnen Ansprüchen, unausgeglichen angewendeten Kriterien. Nicht die unzureichende Handhabung von Triage, sondern die systemische Notwendigkeit zur Triage ist hier bereits das Problem. Sie ist bloß ein Ausdruck der bestehenden Verhältnisse in kaputtgesparten Gesundheitssystemen, in denen sich auch die medizinisch angelegten Kriterien quantitativ wie qualitativ (!) an einer Ökonomie der "Verwaltung des Mangels" orientieren müssen.

Wäre es demgegenüber nicht sinnvoller, gar nicht erst zu versuchen, ein (ohnehin unerreichbares) "gerechtes" System der Triage zu finden, sondern ein von vornherein entsprechend resilientes Gesundheitssystem zu entwickeln, das nicht Gefahr läuft, die solidarisch herausgeforderte Gesellschaft durch Diskriminierung zu sprengen?

Ähnliches kann heute, wenn auch nicht ganz so spektakulär, an den anderen Einrichtungen des Sozialstaats beobachtet werden. Eine effizienzgetriebene Ökonomie schafft zusehends neue gesellschaftliche Verhältnisse, in denen all die vielfältigen Lebenskonzepte mit ihren verschiedenen konkreten Ordnungsvorstellungen auf jene einzige, von außen vorgegebene (aber von allen zu verinnerlichende) Ordnung der Kapitalverwertung reduziert sind. Das Grenznutzenkalkül fungiert dabei als das alles bestimmende Kriterium im Hintergrund.

Verleugnung eines unlösbaren Problems

Sich da am ausgleichenden Kriterium der Verhältnismäßigkeit zu orientieren, scheint dagegen dem Variantenreichtum individuell möglicher Lebensentwürfe Rechnung zu tragen. Es verspricht ein Maximum an gesellschaftlicher Freiheit für alle. Leider aber kann auch die Verhältnismäßigkeit nicht besser sein als die Verhältnisse, auf denen sie beruht und zwischen denen sie vermitteln soll. Gerade unter den restriktiven Verhältnissen in Ausnahmesituationen wird auch eine um Ausgleich bemühte Verhältnismäßigkeit noch keinen Zuwachs an gesellschaftlichen Möglichkeiten bedeuten, im Gegenteil.

Wie wir gerade an der Corona-Krise schmerzlich erfahren, kann auch eine ethisch kalkulierte Verhältnismäßigkeit mangels besserer Verhältnisse zu nicht mehr als einer erzwungenen Wahl zwischen den vorgegebenen Untergangsszenarien - dem biologischen und dem ökonomischen - führen. In diesem unlösbaren Dilemma ist es nur noch möglich, herumzulavieren. Von einer noch so ausgewogen gestalteten Verhältnismäßigkeit allein neue Lösungsperspektiven zu erwarten, ist also schlicht naiv und Ausdruck der Verleugnung eines auf diese Weise unlösbaren Problems.

Wenn der Kontext der (systemisch ineinandergreifenden) gesellschaftlichen Verhältnisse ein für alle akzeptables Zusammenleben nicht erlaubt, können auch nachträgliche Bemühungen um einen gesellschaftlichen Ausgleich nicht erfolgreich sein. Zuallererst geht es um die Schaffung adäquater sozialer und ökologischer Verhältnisse, um eine für alle lebbare Welt. Sollten wir das nicht berücksichtigen und schon jetzt entsprechende Systemänderungen in Angriff nehmen, werden wir auch bei der kommenden Klimakatastrophe nicht besser gerüstet sein als bei der aktuellen "Kernschmelze" so mancher Gesundheitssysteme im Rahmen der derzeitigen Pandemie.