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"Bereiten wir dem Alter einen freudigen Empfang, lieben wir es; es ist reich an Annehmlichkeiten, wenn man es zu nutzen weiß." Selten erfuhr das Alter eine so freundliche Würdigung. Sie stammt von dem römischen Philosophen Seneca, der im 12. Brief an Lucilius ein Loblied auf das Alter singt. Da sind noch keine Jeremiaden über die Nachteile und Gebrechen des Alters zu vernehmen, wie sie von vielen Philosophen und Schriftstellern vorgetragen wurden.
Lernen und Lieben
Eine ähnlich positive Haltung findet sich bei dem römischen Politiker und Philosophen Marcus Tullius Cicero, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert lebte. Als 63-jähriger Senator verfasste er eine Verteidigung des Alters, in der er die Vorteile dieses Lebensabschnitts beschreibt. Cicero gibt auch konkrete Anweisungen, die verhindern sollen, dass sich die Alternden passiv mit der Rolle des unproduktiven Greises begnügen. Er empfiehlt, auf die Defizite des Alters aktiv zu reagieren. Eine Strategie, den Alterungsprozess positiv zu gestalten, besteht im Lernen. Denn durch das ständige Lernen im Alter werden geistige Kräfte geschult, mit denen die Minderung der körperlichen Kraft kompensiert wird. Ein weiterer wichtiger Faktor für das Wohlbefinden im Alter ist die Bewegung, wie sie exemplarisch im Laufen vollzogen wird.
Schließlich gibt Cicero den Ratschlag, auch im Alter nicht auf die Liebe zu vergessen. Der Philosoph und Soziologe André Gorz, der eng mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre befreundet war, hat dies befolgt. In seinem Buch "Brief an D. Geschichte einer Liebe" formulierte Gorz eine berührende Liebenserklärung an seine Frau Dorine: "Bald wirst Du jetzt zweiundachtzig sein und immer noch bist Du schön, graziös und begehrenswert", heißt es da, "kürzlich habe ich mich von neuem in Dich verliebt und wieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die Wärme Deines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag."
Eine völlig konträre Sichtweise des Alters findet sich bei der französischen Philosophin Simone de Beauvoir. In ihrer bahnbrechenden Studie "Das Alter", die nach der Publikation im Jahr 1970 großes Aufsehen erregte, wollte sie "die umfassende Verschwörung des Schweigens brechen", die alte Menschen betraf. Sie ging davon aus, dass das eigene Alter das Nicht-Realisierbare darstellt, da es kein Gegenstand innerer Erfahrung ist. Vielmehr konfrontiert uns das Alter mit unserer Endlichkeit: mit den Grenzen unserer Zukunft und dem Eingeschlossensein in eine historische Epoche und ihrem Gewicht der Vergangenheit.
Das Alter wird vielfach mit Gebrechlichkeit, Verfall und Demenz gleichgesetzt und löst ein existenzielles Trauma aus. Die Tatsache des Alters und des Alterns bewirkt eine tiefgreifende Verstörung. Der langsam einsetzende Prozess des Alterns bedeutet einen Einschnitt in das gewohnte Leben; körperliche und geistige Defizite machen sich bemerkbar; man wird allmählich zu "einem Wesen fremder Art".
Schock des Alterns
Zahlreiche Schriftsteller und Philosophen beschreiben den Schock - das "tiefe Erschrecken vor dem Ich" -, wenn sie sich zum ersten Mal mit dem Faktum des Altwerdens ernsthaft auseinandersetzen. Erschüttert konstatierte der französische Schriftsteller Louis Aragon: "Was ist geschehen? Das Leben - und ich bin alt geworden". Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich beschreibt in ihrem Buch "Die Radikalität des Alters" ebenfalls die vielfältigen Mühen des Alters: "Wenn man wie ich 93 Jahre alt ist, ist die Realität des Alters äußerst mühsam. Der Körper, der sich - wie der meine - durchaus daran erinnert, dass Gehen ein großes Vergnügen machen kann, ist jetzt wie ein schwerer Klotz, den man nur mit vielen guten Worten in Bewegung zu setzen vermag." Ähnlich äußert sich der 2004 verstorbene italienische Philosoph Norberto Bobbio: "Immer schwankender, auf immer schwächeren Beinen, auf meinen Stock gestützt und am Arm meiner Frau gehe ich immer noch über die Straße". Und der Schriftsteller und Kulturpublizist Jean Améry spricht in seinem Buch "Über das Altern. Revolte und Resignation" von der "unheilbaren Krankheit des Alterns" und vom "Heranrücken des dunklen Gesellen, der an meiner Seite herläuft".
Eine nicht zu überbietende Beschreibung der Deformationen, die das Alter mit sich bringt, findet sich bei dem irischen Schriftsteller Samuel Beckett in seinem Roman "Molloy". Der Leser wird Zeuge des körperlichen Verfalls des gleichnamigen Protagonisten, der bewegungsunfähig im Bett seiner Mutter liegt, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen ist: "Alles verschwimmt. Noch ein wenig mehr und man ist blind. Es sitzt im Kopf. Er tut nicht mehr mit. Er sagt: Ich tue nicht mehr mit".
Zweifel am Neuen
Verklärung und Resignation - das sind die beiden polaren Sichtweisen des Alters. Daneben existieren noch zahlreiche Facetten, die von Philosophen und Schriftstellern beschrieben wurden. So beklagt Jean Améry den Verlust seiner persönlichen Autonomie. Er spricht von einem "kulturellen Altwerden" und meint damit den Widerwillen, sein durch ein umfangreiches Lektürepensum erstelltes kulturelles Weltbild an die jeweils herrschende intellektuelle Mode anzupassen.
Im Alter bestehe für viele Intellektuelle die Gefahr, so schreibt er, an dem gewohnten, vertrauten kulturellen Kanon festzuhalten und sich neuartigen Denkströmungen zu verschließen. Als Beispiel nennt Améry postmoderne Autoren wie Jacques Derrida oder Jean-François Lyotard, die sich um eine Annäherung von Heidegger und Marx bemühten. "Wird der Alternde gewahr, wie die Marxisten, die er immerhin als Waffenträger der rationalistischen Streitmacht erachtet hat, sich jetzt halb und halb zu Heidegger bekennen", schreibt Améry, "muss ihm der Geist der Zeit als abwegig, ja als verrückt erscheinen."
Noch weiter geht der schon einmal genannte, in Wien geborene Philosoph André Gorz. Er vertritt in dem Essay "Über das Altern" die radikale These, dass das Altern schon mit der Ausübung eines Berufs beginne. Für ihn ist der Einstieg in das Berufsleben "ein Absturz", der die Existenz des Jugendlichen, dem noch alle Möglichkeiten eines Lebensentwurfs offen stehen, in eine bestimmte Bahn lenkt. Dem noch nicht festgelegten Jugendlichen wird das Korsett einer fremdbestimmten Lebensweise übergestülpt; er wird in einen Anderen verwandelt, der sich den Anforderungen des jeweiligen Berufsstands anpasst und so seine Autonomie verliert.
"Das Altern war vor allem diese Integration und gleichzeitig die Verstümmelung seiner selbst als Anderer", notierte Gorz, "Gegenstand sowohl des Stolzes (ausgehend von nichts bin ich das geworden) wie der Auflehnung (das haben sie aus mir gemacht, sie haben mich reingelegt) und einer beschämten Entrüstung, die sagte Allen geht es so, da muss man eben durch, will man nicht beim Betrachten des blauen Himmels verhungern’."
Die unwürdige Greisin
Eine andere Facette einer "Phänomenologie des Alters" stellt "die unwürdige Greisin" dar, wie der Titel einer Erzählung von Bertolt Brecht lautet. Darin schildert Brecht das Leben einer älteren Frau, die in einer badischen Kleinstadt lebt und nach dem Tod ihres Mannes ihr gewohntes Leben entscheidend verändert - sehr zum Missfallen ihres Sohnes, der auf finanzielle Zuwendungen gehofft hat. "Die unwürdige Greisin", deren bisheriges Leben völlig den üblichen Vorstellungen von einer aufopferungsvollen Mutter und Hausfrau entsprach, ändert als Witwe grundlegend ihren Lebensstil. Sie entdeckt nun, dass sie eigene Bedürfnisse hat, die sie genussvoll auslebt. Sie besucht Kinos und Gasthöfe, unternimmt kleine Ausflüge und sucht sich einen neuen Bekanntenkreis, der kaum etwas mit dem gewohnten sozialen Umfeld zu tun hat. So pflegt sie Umgang mit einem sozialdemokratischen Flickschuster, in dessen Werkstatt sie häufig ein Glas Wein trinkt. Außerdem kümmert sie sich um ein geistig behindertes Küchenmädchen eines Gasthofes und unternimmt mit ihr Kutschenfahrten.
Dieser Ausbruch aus den bisherigen Konventionen - verbunden mit den kleinen Freuden eines gemäßigten Hedonismus - macht sie in den Augen ihres Sohnes zu einer "unwürdigen Greisin", für die man sich schämen muss. Das Schlussresümee lautet: "Genau betrachtet lebte sie hintereinander zwei Leben. Das eine, erste, als Tochter, als Frau und als Mutter und das zweite einfach als Frau B., eine alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln." Und im letzten Satz der Erzählung heißt es: "Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen."
Das Brot des Lebens hatte auch Leo Tolstoi aufgezehrt, bevor er eine Aufsehen erregende Aktion durchführte. Nach jahrzehntelangen Streitigkeiten mit seiner Frau Sofja, die ihn völlig zermürbten, verließ er seine Frau und seinen Besitz in Jasnaja Poljana und brach zu seiner letzten Reise auf, von der Vorstellung besessen, als bedürfnisloser Bauer durch das Land zu ziehen. Nach wenigen Wochen erlag er den Anstrengungen der Reise und verstarb als 82-Jähriger im Haus eines Bahnhofvorstandes in Astapovo.
Die diesem dramatischen Ereignis vorangehenden Lebensjahre zeichneten sich durch Tolstois legendäre Vitalität aus. Er unternahm stundenlange Wanderungen und Ausritte, liebte es - ähnlich wie Ernst Jünger - eiskalte Bäder zu nehmen, arbeitete an Romanen, Novellen und Tagebucheintragungen und schrieb über Shakespeare, den er zutiefst verabscheute, einen Essay. Eine Schar von Anhängern belagerte sein Gut in Jasnaja Poljana, was wiederum zu endlosen Streitigkeiten mit seiner Frau Sofja führte. Trotz des permanenten ehelichen Kleinkriegs fühlte Tolstoi eine Verpflichtung gegenüber seiner Frau; in seinem Abschiedsbrief an sie schrieb er: "Ich tue das, was Alte in meinem Alter tun sollten: sie gehen aus dem Leben, um ihre letzten Tage in Einsamkeit und Ruhe zu verbringen."
Bruch mit sich selbst
Einen radikalen Bruch vollzog auch der französische Philosoph Jean-Paul Sartre, der von 1905 bis 1980 lebte. Im Alter von 70 Jahren unternahm er einen Generalangriff gegen sein gesamtes Werk. In einem Gespräch mit dem Philosophen Michel Sicard verkündete Sartre: "Ich schreibe ein Werk, das alles, was ich philosophisch gedacht habe, vollkommen verändern wird und das, so ich es vollenden kann, von ,Das Sein und das Nichts und der ,Kritik der dialektischen Vernunft nichts mehr stehen lässt."
Sartres gesundheitlicher Zustand war damals besorgniserregend. Er wirkte gebrechlich, war auf Hilfe angewiesen. Besonders machte ihm seine Erblindung zu schaffen. "Mit meinem Beruf als Schriftsteller ist es zu Ende" konstatierte er. Dennoch arbeitete er weiter - mit Hilfe seines Sekretärs Benny Lévy. Der elitäre Solipsismus Sartres wich einer Dialogphilosophie, die sich an den Gedanken der jüdischen Philosophen Martin Buber oder Emmanuel Lévinas orientierte. Im jüdischen Denken entdeckte Sartre den "Wunsch nach Gesellschaft", der den Wert des Individuums bestehen lässt. Er plädierte nun für eine Moral "die nur mit dem Du und für das Du begriffen werden kann". Die Moral muss den Gedanken der Brüderlichkeit so weit ausdehnen, bis er zu einer einzigartigen und offenkundigen Verbindung zwischen allen wird.
Mit Platon und Bibel
Besonders überraschend war Sartres Hinwendung zur Religion. Der "freie Geist", der die Religion bloß als Mittel betrachtete, das Subjekt zu entmündigen, las nun die Bibel und den Talmud. Er behauptete, dass ihm beide Bücher "genauso viel zu denken geben wie Platon". Sein Ziel war es, in der noch vorhandenen Lebenszeit die Offenbarung der Bibel mit dem platonischen Denken in Einklang zu bringen. "Die Welt scheint hässlich, schlecht und hoffnungslos. So sagt die stille Verzweiflung eines alten Mannes, der in ihr sterben wird. Doch ich leiste ihr Widerstand und ich weiß, dass ich in der Hoffnung sterben werde; diese Hoffnung gilt es zu begründen."
Als Verkörperung eines weisen, toleranten Philosophen im 20. Jahrhundert gilt Hans-Georg Gadamer, der das biblische Alter von 102 Jahren erreichte. Auch im hohen Alter bemühte sich Gadamer um die Verständigung zwischen den Menschen. Wesentlich war für ihn das Gespräch, das die oftmals versteinerten Strukturen eines älteren Menschen aufbricht.
Hans-Georg Gadamer verstand es, auf unnachahmliche Weise - bei einem oder mehreren Gläsern Wein - noch anlässlich der Feiern zu seinem 100. Geburtstag mit Kollegen und Studenten zu sprechen. Als Beobachter des Geschehens hatte man den Eindruck, dass Gadamer mit dem venezianischen Lebenskünstler Lodovico Cornaro übereinstimmte, der im Alter von 104 Jahren das Fazit seines Lebens so formuliert hatte: "Ich halte das Leben, das ich jetzt habe, obschon es ein vorgerücktes ist, für das angenehmste und schönste meines Lebens."
Nikolaus Halmer, geboren 1958, seit 1989 Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF für Philosophie, Kulturwissenschaften.