Zum Hauptinhalt springen

Verkörperte Vernunft

Von Ulrich H.J. Körtner

Gastkommentare
Ulrich H. J. Körtner ist Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
© Hans Hochstöger

Ein Plädoyer für unsere Leiblichkeit.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ist der Mensch ein Auslaufmodell? Wenn man den Propheten des Transhumanismus und der Künstlichen Intelligenz glauben möchte, könnte dem Homo sapiens seine Stunde schlagen, wenn intelligente Maschinen ihn aus der Arbeitswelt hinausdrängen oder eine neue Spezies von Übermenschen den alten Menschen ablöst.

Das ist zum Beispiel die Fantasie, die der israelischen Historikers Yuval Harari in Bestsellern wie "Homo Deus", "Eine kurze Geschichte der Menschheit" oder "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert" entwickelt. Seine vermeintlich egalitären Ideen, wonach künftige Generationen in den Genuss einer beispiellosen Glückseligkeit versetzt werden sollen, erweisen sich bei näherem Hinschauen als Vision einer Welt, in der bestehende Ungleichheiten sogar noch verschärft werden. Die einen werden am ultimativen technologischen Fortschritt teilhaben, die anderen hingegen den Zug endgültig verpasst haben und keine zweite Chance bekommen.

Doch weiter gefragt: Lässt sich der Mensch als denkendes, fühlendes und zur Verantwortung fähiges Wesen eines Tages durch Maschinen und KI ersetzen? Dass Letztere viele Aufgaben übernehmen kann, die bisher von Menschen ausgeführt wurden, liegt auf der Hand. Schon in der bisherigen Geschichte sind menschliche Tätigkeiten an Maschinen delegiert worden, die sie sogar noch weit besser als der Mensch ausüben können. Zu seiner Abschaffung hat die Technikgeschichte bisher jedoch nicht geführt.

Ein tiefliegendes Missverständnis von KI

Sollte das im Fall von KI anders sein? Wer das glaubt, sitzt einem tiefliegenden Missverständnis von KI und einem ebenso tiefliegenden Selbstmissverständnis auf. Denken im gehaltvollen Sinne des Wortes setzt ein Bewusstsein voraus und unterscheidet sich fundamental von maschineller Datensammlung und Informationsverarbeitung. Bewusstsein aber ist keine Eigenschaft von artifiziellen Systemen der Datenauswertung, sondern eine spezifische Eigenschaft von Lebewesen aus Fleisch und Blut.

Thomas Fuchs, Inhaber der Karl-Jaspers-Professur für philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, bringt es folgendermaßen auf den Punkt: Ohne organisches Leben und Bewusstsein - und das bedeutet: ohne subjektives Erleben - kann es keine wirkliche Intelligenz geben. Das Erleben selbst aber ist nicht künstlich herstellbar, sondern allenfalls virtuell zu simulieren. Anders gesagt: "Wenn Bewusstsein notwendig ist, um Information zu verstehen, das heißt, um in Strukturen und Mustern der Welt überhaupt erst so etwas wie Informationen zu sehen, dann kann es nicht selbst aus Information bestehen."

Nicht unser Gehirn denkt, sondern wir denken mithilfe unseres Gehirns, das nicht vom übrigen Körper isoliert existiert, sondern mit diesem eine komplexe organische Einheit bildet. Das zentrale Nervensystem erstreckt sich über den gesamten Körper und beschränkt sich nicht auf das Gehirn. Es gibt auch nicht nur das Gedächtnis im Gehirn, sondern ein Körpergedächtnis, das sich zum Beispiel in erlernten Körperbewegungen äußert - etwa beim Radfahren, Tanzen oder Klavierspielen - und auch noch bei Menschen, die an Demenz leiden, weitgehend intakt ist.

Unsere Vernunft oder Intelligenz ist inkarnierte, verkörperte Vernunft, wie es der französischen Philosoph Maurice Merleau-Ponty formuliert hat. Sie ist von unserem Körper gar nicht ablösbar. Der Körper, der zu 70 Prozent aus Wasser und im Übrigen aus Kohlenstoffverbindungen besteht, ist keine Maschine, und das Gehirn ist kein Computer. Setzt man Computer unter Wasser, erleiden sie einen Kurzschluss. Bewusstsein und Denken sind auch keine auf dem Gehirn als Hardware hochgeladene Software.

Maschinen entscheiden nichts, sondern folgen Algorithmen

Das Gehirn ist vielmehr plastisch und verändert seine Struktur im Verlauf des Lebens und in Folge von Denkprozessen. Kurz: Programme von Künstlicher Intelligenz sind keine denkenden Personen, und Personen sind keine Programme der Informationsverarbeitung. Computer stellen und beantworten keine Sinnfragen - sie verstehen sie gar nicht. Insofern liegt schon dem Begriff "Künstliche Intelligenz" ein Missverständnis dessen, was Intelligenz ihrem Wesen nach ist, zugrunde.

Ebenso missverständlich ist es, wenn von autonom agierenden Maschinen oder Fahrzeugen gesprochen wird. Maschinen entscheiden nichts, sondern folgen Algorithmen, für deren Programmierung Menschen aus Fleisch und Blut Verantwortung tragen. Nur sie sind im gehaltvollen Sinne des Wortes autonom, wenn man darunter wie der Philosoph Immanuel Kant die Fähigkeit versteht, sein eigener moralischer Gesetzgeber zu sein.

Bezogen auf unsere Körperlichkeit ist unsere Zeit von einer eigentümlichen Paradoxie gekennzeichnet: Einerseits erleben wir in allen Lebensbereichen einen ungeahnten Körperkult, bei dem die eigene Identität ganz auf die Körperlichkeit, das äußere Erscheinungsbild wie das körperliche Wohlbefinden reduziert wird. Andererseits aber sind wir, wenn es um Künstliche Intelligenz und virtuelle Welten geht, "Zeugen einer erstaunlichen Entmaterialisierung" (Zitat Professor Fuchs). Weder sind wir körperlose Intelligenz noch auf unsere Körperlichkeit beschränkt. Das eine wie das andere ist eine Gestalt der Entfremdung.

Entmaterialisierung und Virtualisierung der Lebenswelt

Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie hat die Entmaterialisierung und Virtualisierung unserer Lebenswelt einen neuen Schub erfahren. Online-Meetings gehören seitdem beruflich wie privat zur Tagesordnung. Gleichzeitig wurde uns während der Lockdowns schmerzhaft bewusst, was fehlt, wenn körperliche Präsenz und Nähe unterbunden werden, etwa aufgrund von Besuchsverboten in Pflegeeinrichtungen. Smalltalk und Geselligkeit, körperliche Berührungen und der Austausch von Zärtlichkeiten lassen sich durch virtuelle Simulation nicht ersetzen.

Unsere leibliche Existenz lässt sich freilich auch nicht auf unsere reine Körperlichkeit reduzieren. Wir sind nicht bloß Körper, sondern wir haben ihn auch. Indem wir über ihn sprechen, unterscheiden wir uns von ihm, ohne ihm zu entkommen. Durch ihn sind wir mit der gesamten Welt verbunden, was wir schon bei jedem Atemzug spüren. In der Unterscheidung und dialektischen Zuordnung von Leib sein und Leib haben zeigt sich unser wahres Menschsein, das es im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung zu verteidigen gilt.