Zum Hauptinhalt springen

Verlängerung im Match um Freiheit

Von Michael Schmölzer

Politik

Reformer sehen sich um ihre Revolution betrogen. | Tausende demonstrierten am Freitag auf dem Tahrir-Platz.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Kairo. Ende November wollen die Ägypter die Früchte ihrer Revolution ernten. Dann endlich soll der Wille des Volkes zählen, in freien Wahlen ein Parlament bestimmt werden, die Parteien gleichberechtigt zum Votum antreten dürfen. Allerdings: Der Glaube, dass Ägypten tatsächlich eine strahlende demokratische Zukunft beschieden sein wird, schwindet. Am Freitag versammelten sich tausende Menschen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, um ihrer Forderung nach einer raschen Umsetzung der Revolutionsziele Nachdruck zu verleihen, für die sie im Frühjahr wochenlang demonstriert hatten.

Derzeit ist das Land der Pharaonen eine Militärdiktatur, in den Generalsuniformen stecken die gleichen Männer, die unter dem gestürzten Machthaber Hosni Mubarak Dienst getan haben - oft seit Jahrzehnten schon. Der regierende Militärrat versichert, die Macht nach den Wahlen an zivile Politiker abgeben zu wollen. Doch immer mehr Ägypter zweifeln an den guten Absichten der Uniformierten. Denn Tatsache ist, dass sich nach dem Sturz Mubaraks im Februar eine Herrschaft mit äußerst unfreundlichem Antlitz etabliert hat. Tausende Bürger sitzen wegen politischer Delikte - etwa, weil sie den Militärrat kritisiert oder an Demonstrationen teilgenommen haben - in den Gefängnissen. Militärgerichte fällen Urteile im Akkord. Bei den Prozessen handelt es sich um summarische Verfahren, die Angeklagten werden gruppenweise vorgeführt. Die Prozedur dauert selten länger als eine halbe Stunde, das Strafmaß hingegen beträgt zwei bis fünf Jahre. In den Haftanstalten wird gefoltert, auch hier hat sich nach dem Sturz Hosni Mubaraks nichts zum Besseren verändert.

Der Blogger Mikel Nabil Sanad etwa ging hinter Gitter nur für die Feststellung, dass "Volk und Armee nicht mehr Hand in Hand gehen". Er ist in Hungerstreik getreten, soll bei einer Größe von fast ein Meter achtzig nur noch 48 Kilo wiegen.

Vom Helden zum

ungeliebten Patron

Die Generäle haben von der süßen Frucht der Macht gekostet, die Ägypter fürchten, dass sie nach den Wahlen nicht mehr davon lassen werden. Das Militär würde dann versuchen, Ägypten ein halbdemokratisches Mäntelchen überzuziehen, sagen Demokratie-Aktivisten. Resultat wäre ein politisches System ähnlich dem, das die Türkei nach und nach abgeschüttelt hat: Eine oder mehrere Staatsparteien bilden die Regierung, die Armee zieht im Hintergrund die Fäden.

Je länger Marschall Mohammed Hussein Tantawi das Zepter schwingt, desto öfter zeigen die Menschen offen ihren Unmut.

Im Februar noch wurde die Armee als Heldin gefeiert, die Soldaten mit Blumen bedacht. Immerhin hatten sie nicht auf der Seite des Regimes eingegriffen und die Revolution durch ihre Neutralität erst ermöglicht. Jetzt wollen die Revolutionäre den Militärrat lieber heute als morgen loswerden. Die Unzufriedenen strömen wieder auf die Straßen, politische Aktivisten fordern die Bürger auf, eine Erklärung zu unterzeichnen, wonach der Militärrat jede Legitimität verloren habe. "Wir wollen unsere Revolution zurück", skandierten tausende Ägypter am Freitag auf dem Kairoer Platz der Freiheit, wo die Massenproteste im Frühjahr ihren Ausgang nahmen. Hauptforderungen der wiederauferstandenen Demokratiebewegung sind eine raschere Übergabe der Macht an eine Zivilregierung und die Annullierung der Notstandsgesetze, die schon Mubarak zur Unterdrückung der Opposition missbrauchte. Das Match um Freiheit und Demokratie, so scheint es, ist noch lange nicht gewonnen - es ist nur in die Verlängerung gegangen.

Islamparteien liegen bei bis zu 60 Prozent

Unterdessen sind Meinungsforscher bemüht, die politische Stimmung im Land zu erheben. 80 Parteien haben sich gebildet, die Mehrheit von ihnen ist offiziell noch nicht zugelassen. Laut Meinungsforschern können - wenn es denn zu freien und fairen Wahlen kommt - die stark zersplitterten islamischen Fraktionen mit einer Mehrheit von 55 bis 60 Prozent rechnen, der Rest entfällt auf liberale Parteien. Stärkste Kraft sind die ehemals verbotenen Muslimbrüder; sie kämen laut Umfragen auf 15 bis 25 Prozent der Stimmen. Als Favorit für die Präsidentenwahl, die 2012 stattfinden soll, gilt der Ex- Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa.

Die Aktivisten auf den Straßen wollen den Kampf um Demokratie zu einem siegreichen Ende bringen. Anfang 2012 soll die Macht auf ein demokratisches Parlament und einen zivilen Präsidenten übergegangen sein. Ob das gelingt, ist ungewiss.

Dossier: Arabische Revolution