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Verloren im Netz

Von Alexandra Grass

Wissen
Nicht ohne mein Smartphone: Für den Umgang mit digitalen Medien bedarf es einer technologischen Kulturtechnik.
© Corbis/Erik Tham

Generation Online: Alt und jung braucht Medienkompetenz, damit der Umgang mit Internet & Co nicht zur Sucht wird.


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Schon am Weg zur Schule versuchen sie, im aktuell angesagtesten Spiel das nächste Level zu erreichen. Unter dem Bankfach werden, sofern das Gerät nicht zuvor vom Lehrer eingesammelt wurde, heimlich Nachrichten verschickt und empfangen. Und auch den größten Teil des restlichen Tages widmen die Kids der schönen neuen Welt des Internets. Sogar nächtens ist das Handy nicht selten unter dem Kopfpolster griffbereit, um am Leben der Mitmenschen allzeit bereit teilhaben zu können. WhatsApp, Facebook, Twitter & Co. beherrschen allerdings nicht nur das Leben der Jugendlichen, auch die Erwachsenen scheinen mittlerweile dem Internet verfallen zu sein und sind kaum noch ohne Smartphone anzutreffen.

Mobiles Datenvolumen steigt

Der digitale Gruppenzwang trifft damit Jung und Alt. Hat man keinen permanenten Internetzugang, steht man im sozialen Abseits. E-Mails sollen möglichst sofort beantwortet werden, andernfalls könnte dies als Beleidigung ausgelegt werden. "Wenn wir heute an allem, was in unserer Gesellschaft passiert, teilhaben wollen, müssen wir uns wohl oder übel einem digitalen Netz anschließen", schildert der Arzt und Psychotherapeut Bert te Wildt in seinem neuesten Buch "Digital Junkies - Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder".

Sichtbar wird die Entwicklung auch an aktuellen Zahlen des Forum Mobilkommunikation. Während sich nämlich die Anzahl der Kurznachrichten sowie die Gesprächsminuten sukzessive reduzieren, schießt das mobile Datenvolumen in die Höhe. Verbrauchten die Österreicher im Jahr 2013 noch 113 Millionen Gigabyte, so waren es 2014 schon 182. In den deutschsprachigen Ländern haben einer deutschen Studie zufolge heute bereits weit mehr als 90 Prozent der Menschen einen Internetzugang. 72 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren besitzen ein Smartphone. Ganz ohne Netz geht es offenbar gar nicht mehr.

Kontrollverlust

Immer mehr Menschen verlieren ob dieses breiten Angebots die Kontrolle über ihre Mediennutzung. Bei jeder möglichen Gelegenheit wird über die Bildschirme gewischt. Beim Lieblingsspiel gilt es, den nächsten Highscore zu knacken. Vor allem Online-Rollenspiele befinden sich dabei nach wie vor im Vormarsch. In den unendlichen Weiten des Internets kann der Mensch seinen ureigenen Spieltrieb allzeit stillen. Nicht selten sind Erwachsene anzutreffen, die einfach mal zwischendurch ihre eigene Farm gestalten oder sich im Quizduell üben. Verschiedenste Fantasy-Abenteuer lassen den Spieler in heldenhafte Rollen schlüpfen und im wahrsten Sinne des Wortes endlose Abenteuer mit zahlreichen Spielern rund um den Erdball erleben. Computerspiele wie etwa "World of Warcraft" sind darauf ausgerichtet, dass sie den Menschen in ihren Bann ziehen und damit vereinnahmen. Häufig finden die Leute Anerkennung, die sie in der realen Welt nicht erhalten, und können damit aus dem Alltag ausbrechen.

Die Abhängigkeit von Online-Spielen ist bislang die mit Abstand häufigste Art von Internetabhängigkeit, schreibt te Wildt. Deshalb ist sie auch die erste Variante, die als Krankheitsbild - "Internet Gaming Disorder" - internationale Anerkennung gefunden hat. Die Computerspielsucht treffe fast immer Jugendliche und junge Erwachsene, die sich den Traum von einem selbstbestimmten Erwachsenenleben nicht erfüllen können. Von digitalen Netzwerken würden vor allem jene abhängig, die ein Problem mit echter Nähe zu Menschen haben und denen zwischenmenschliche Beziehungen nicht gelingen.

Die mobilen Endgeräte wie Tablets oder Smartphones - ausgestattet mit Mikrofon, Lautsprecher, Kamera und natürlich Bildschirm - machen es möglich, quasi immer überall gleichzeitig sein zu können.

Dabei könnten die Erwachsenen viel dazu beitragen, dass ihre Nachkommen nicht im Internet verloren gehen und damit der realen Welt abhanden kommen. Dabei soll es nicht darum gehen, die digitale Revolution, in der wir uns befinden, auszubremsen, sondern sie verantwortungsbewusst zu steuern. Einer deutschen Studie zufolge haben wir es allein in Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammen mit mindestens einer Million Internetabhängigen zu tun.

Mit Maß und Ziel

Es bedarf gesellschaftlicher Regeln, einer gewissen technologischen Kulturtechnik, wie wir mit dem Internet umgehen, betont auch Helmut Leopold, Leiter des Digital Safety & Security Department, vom Austria Institute of Technology gegenüber der "Wiener Zeitung". "Anstatt, dass wir den Vorteil sehen, leichter kommunizieren zu können, setzen wir uns den Zwang auf, sofort antworten zu müssen." Die Technologie scheint uns zu überrennen. Während sich die Entwicklung des Autos etwa über mehr als 100 Jahre bis zur breiteren Verwendung erstreckte, sprechen wir beim Internet von nur wenigen Jahren. Die Forschung versucht, hier allgemeine Lösungsansätze zu finden.

Vor allem Eltern und Pädagogen sind gefragt, um den Digital Natives, wie die in der digitalisierten Welt Geborenen genannt werden, ein gesundes Maß und Manieren im Umgang mit elektronischen Medien beizubringen. Es sei wissenschaftlich erwiesen, dass sich die Suchtgefährdung eines Menschen erhöht, je früher er mit einem Suchtmittel in Kontakt kommt, betont te Wildt. "Wir setzen einerseits unsere Kinder zu großem Leistungsdruck aus und lassen sie andererseits ihre Zukunft verspielen."

Die Folgen, die von einer Internetabhängigkeit ausgehen können, schlagen sich laut dem Psychiater in drei Lebensbereichen nieder: im Umgang mit dem eigenen Körper, mit sozialen Beziehungen und mit der eigenen Leistungsfähigkeit. Bei Schülern fange es häufig damit an, dass es aufgrund von Schlafmangel durch nächtliches Computerspielen zu Übermüdungen und Konzentrationsstörungen kommt. Der Bewegungsmangel führt in Folge nicht nur zu Übergewicht. "Der sich im Wachstum befindliche Körper braucht möglichst viele und vielfältige Erfahrungen mit Bewegung und Sinnesreizen, um voll und ganz heranzureifen", betont der Mediziner in seinem Buch. Denn wer als Heranwachsender nicht die physische Welt erkundet und darin den eigenen Körper erobert, dem fehle es später an Handlungsspielräumen und Haltung, um als Erwachsener aufrecht durchs Leben zu gehen.

Die durchschnittliche Internetnutzung ist bei deutschen Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren von 99 Minuten im Jahr 2006 auf 179 Minuten im Jahr 2013 - also drei Stunden pro Tag - gestiegen. In Österreich dürfte es wohl kaum anders sein.

Versäumtes Erleben

Immer mehr Eltern wollen ihre Sprösslinge früh an die Medien heranführen, damit sie nicht den Anschluss an die digitale Welt verpassen. Doch: "Wenn wir die Heranwachsenden in einer virtuellen Welt aussetzen und sie dort sich selbst überlassen, werden sie wohl kaum zu selbstbestimmten Erwachsenen heranreifen, die sich in der realen Welt noch zurechtfinden", so te Wildt. Erst mit dem achten Lebensjahr sind Kinder in der Lage, zwischen Virtualität und Realität, zwischen Fantasie und Fiktion zu unterscheiden. Das Problem eines zu frühen und langen Konsums von Bildschirmmedien sei in der Regel gar nicht so sehr, was Kinder dabei erleben, sondern vielmehr, was sie in dieser Zeit alles nicht erleben.

Für den Menschen sei es wichtig, möglichst viele Medien- bzw. Kommunikationstechniken im Repertoire zu haben, um nicht im Falle eines digitalen Super-GAUs auf die Stufe des Menschen der Frühzeit zurückzufallen. Ganz klar ist es wichtig, auch digitale Medienkompetenz zu erlangen, aber das Timing muss stimmen.