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Vor genau zwei Jahren floh der blinde chinesische Dissident Chen Guangcheng auf spektakuläre Weise in die Botschaft der USA in Peking. Mittlerweile engagiert sich der Aktivist in einem konservativen Think Tank gegen das Recht auf Abtreibungen.
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Peking/Washington. Nicht nur Medaillen haben zwei Seiten, sondern meistens auch die Menschen. Im Falle des chinesischen Menschenrechtsaktivisten Chen Guangcheng kommen sogar noch weitere Facetten hinzu. Der seit einem Kindheitsunfall blinde Bauernsohn war in China zuerst Staatsheld, dann wurde er zum Staatsfeind. Er galt als Ikone demokratischer Freiheitsbemühungen und als Symbol erfolgreicher US-Diplomatie der Ära Barack Obama. In den USA engagiert sich Chen nun in einem ultrakonservativen Think Tank, der gegen Homosexuelle und Abtreibungen agitiert. Und er beschwert sich darüber, dass sein Telefon von der Kommunistischen Partei Chinas überwacht wird - dabei hat sein Gastland millionenfach Verbindungsdaten von der NSA speichern lassen.
Vor genau zwei Jahren wurde Chen international bekannt, als er in einer dramatischen Flucht die US-Botschaft in Peking erreichte und eine veritable Krise zwischen den USA und China auslöste.
Dabei war der "barfüßige Anwalt", wie ihn das Magazin "New Yorker" nannte, in seiner Heimat zunächst durchaus angesehen gewesen: Nachdem er sich im Selbststudium Grundkenntnisse der Rechtswissenschaften angeeignet hatte, beriet er Behinderte und junge Eltern bei juristischen Fragen. Das brachte ihm landesweite Anerkennung ein. Doch als er begann, die Dorfbewohner seiner Provinz Shandong im Kampf gegen Zwangssterilisationen und erzwungene Schwangerschaftsabbrüche im Rahmen von Chinas Ein-Kind-Politik zu unterstützen, verhaftete ihn 2005 die Kommunistische Partei.
Diplomatischer Drahtseilakt
Es folgten zwei Schauprozesse, in denen Chen zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt wurde. Doch selbst nach Abbüßen der Gefängnisstraße war die Sache für den in Ungnade gefallenen Dissidenten keineswegs ausgestanden: Er stand praktisch permanent unter Hausarrest, vor und an seinem Haus wurden Kameras installiert, er selbst von Mitarbeitern chinesischer Sicherheitsdienste krankenhausreif geschlagen. Hätten sie seine Flucht im April 2012 bemerkt, wäre ihm zumindest Ähnliches widerfahren. So wiederum musste sich Chinas Geheimdienst die Frage gefallen lassen, wie es einem Blinden am helllichten Tag gelingen konnte, eine zwei Meter hohe Mauer zu überwinden, sich dabei den Fuß zu brechen und anschließend sechs Tage Richtung Peking zu taumeln, ohne von seinen 60 Bewachern entdeckt zu werden. Er platzte mitten in einen Staatsbesuch der damaligen Außenministerin Hillary Clinton; die Verhandlungen um Chen wurden zu einem Drahtseilakt für die US-chinesischen Beziehungen. Nach sechs zermürbenden Tagen in der Botschaft durfte er schließlich mit seiner Frau und zwei Kindern ausreisen, um an der New York University (NYU) ein Stipendium anzutreten.
Doch richtig Fuß fassen konnte der 43-Jährige in seiner neuen Heimat nicht. Schon früh beschwerte er sich darüber, dass Präsident Barack Obama ihn nicht persönlich empfangen habe, da dieser "Angst vor der Partei" hätte. Diese würde ihn auch in den USA weiterhin beschatten und seine Kommunikation abhören. Besonders enttäuscht zeigte sich Chen jedoch, dass die Hochschule sein Stipendium im Juni letzten Jahres nicht verlängert habe - auf Druck der chinesischen Führung, wie er glaubt. Chen vermutet nämlich, die New York University wolle ihr ehrgeiziges Projekt eines neuen Campus in Shanghai nicht gefährden. An diesem Punkt gehen die Ansichten jedoch auseinander.
"Ich glaube, er hat hier einige Dinge missverstanden", kommentierte sein Professor und Mentor Jerome Cohen. Seiner Darstellung nach war das Stipendium von Beginn an auf ein Jahr beschränkt, danach hätte die NYU Chen noch finanziell unterstützt: "Dafür gibt es im Gegensatz zu Chens Behauptungen Beweise." Cohen zeigte sich enttäuscht: "Die Hand, die einen füttert, sollte man nicht beißen."
Vereinnahmung von rechts
Doch viele Beobachter sind der Meinung, dass Chen nach seiner Flucht in die USA mehr Unterstützung und Führung gebraucht hätte. Sein jüngster Schritt scheint dies zu bestätigen: Im Oktober 2013 nahm er ein dreijähriges Stipendium am Witherspoon Institute an, einem konservativen Think Tank, der sich unter anderem gegen Abtreibungen und Homosexuelle engagiert. Sein engster Berater ist mittlerweile Bob Fu, ein sehr weit rechter Pastor und Präsident von China Aid, einer christlichen Non-Profit-Organisation, die sich für Menschenrechte in China einsetzt. Das überrascht nicht: Wegen seines Einsatzes gegen ungewollte Abtreibungen in China wurde Chen schon zuvor von konservativen Teilen der US-Politik um Chris Smith zur Ikone ihres Kampfes gegen gewollte Abtreibungen stilisiert. Chen selbst scheint diese Vereinnahmung jedoch nicht bewusst zu sein: "Wer links oder rechts ist, mag für die Amerikaner wichtig sein - mir ist das egal. Alle Menschen, die sich für die Menschenrechte in China einsetzen und die Demokratisierung unterstützen, sind Freunde."