Nervöse Soldaten, plündernde Rebellen. Dazwischen steht die Zivilbevölkerung, die beiden Seiten misstraut. | Eine Fahrt durch die Ostukraine.
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Donezk. "Das ist nicht gut. Gar nicht gut", sagt Jura und starrt in Richtung der besetzen Gebietsverwaltung, als er am frühen Morgen durch das erst langsam erwachende Donezk zur Arbeit fährt - so als ob er durch längeres Hinsehen einen Anhaltspunkt finden könnte, was im Inneren vor sich geht. Gerade erst war der Wahltag in der Ukraine ohne gröbere Zusammenstöße verlaufen, und die Einwohner hatten aufgeatmet. Seit dem frühen Morgen aber trieben den Bewohnern der ostukrainischen Stadt drei Worte erneut Sorgenfalten auf die Stirn: "Verhängung des Kriegszustands". Die Separatisten hatten dies um ein Uhr nachts über den Kurznachrichtendienst Twitter erklärt - und hinzugefügt, die nächste Aufgabe sei, das "Territorium der Donezker Volksrepublik von fremden Armeen zu befreien".
Dass damit die ukrainische Armee gemeint war, die im Osten des Landes mit einer "Anti-Terror-Operation" versucht, die Rebellen zu vertreiben, war klar. Unklar war jedoch, was die Ankündigung genau bedeuten würde. Doch noch bevor Jura an seinem Arbeitsplatz angelangt war, hatten die Separatisten den Flughafen in Donezk besetzt.
Noch vor gut drei Wochen war Jura ganz stolz darauf, als er in den umliegenden Städten seiner Heimatstadt Donezk unterwegs war und dort keine einzige ukrainische Fahne sah. Er schimpfte über die "illegitime Führung" in Kiew, nannte sie "Junta", und freute sich über jeden Checkpoint der Separatisten, die Kiew die Stirn boten. Nach zwei Tragödien in Odessa und Mariupol Anfang Mai mit insgesamt mehr als 50 Toten hatte die "Donezker Volksrepublik" einen Popularitäts-Höhenflug erlebt. Das "Referendum" über die Unabhängigkeit der Region zog deshalb unerwartet viele Unterstützer an.
"Das ist alles nur mehr absurd"
Doch das scheint nun schon eine Ewigkeit her. Als Jura gegen Mittag für ein Treffen nach Mariupol aufbricht, kreisen bereits die ersten Hubschrauber über dem Flughafen in Donezk, Kampfjets feuern auf das Gelände. Er selbst bekommt davon nichts mit. Er reist vom Süden der Stadt ab, die Kämpfe finden im Norden statt. Das Radio dreht er mittlerweile nicht mehr auf. Die ganzen Lügengeschichten halte er nicht mehr aus, die Nachrichten würden ihn, der offiziell schon in Pension ist, aber als Logistiker dazuverdient, zu sehr aufregen.
Er hat ohnehin Unterhaltung auf der gut zweistündigen Fahrt an die Stadt am Meer. Er nennt es Checkpoint- und Fahnen-Raten. Fast täglich wechseln die Standorte der Barrikaden auf den Zufahrten zu den Städten in dem Gebiet der "Volksrepublik". Genauso wechselhaft sind aber auch ihre zumeist schwer bewaffneten Betreiber. Sie alle haben ihre eigenen Fahnen, etwa das Bataillon "Vostok-1", das zu den Aufständischen gehört - ein Sankt-Georgs-Band auf weißem Hintergrund - oder die Vereinigung "Jugo-Vostok" - in Violett. Rund um Donezk und hinauf in den Norden, Richtung Slawjansk, dominieren die Farben der "Donezker Volksrepublik". Erst vor wenigen Tagen wurde "Neurussland" ausgerufen - ein Zusammenschluss der Donezker und Lugansker "Volksrepubliken". Jura ist also gespannt, ob er eine Novorossija-Flagge entdeckt. Er kennt sie noch nicht. Irgendwann am Weg aber hört er mit dem Fahnen-Raten auf. "Das ist doch alles nur mehr absurd."
Kämpfer aus Tschetschenien
Je näher er Mariupol kommt, desto öfter tauchen Checkpoints der Armee auf. Sie sind massiv, vier Panzer stehen vor der Einfahrt zur Hafenstadt. Die Soldaten liegen halb auf den auf Betonblöcken aufgestapelten Sandsäcken und richten ihre Gewehre auf die Windschutzscheibe jedes Autos, während ein Kamerad die Kofferräume überprüft. Bei Jura ist zwar Ernüchterung eingetreten, seit er gemerkt habe, dass die Anführer der Donezker Volksrepublik immer krimineller agierten, nur ihre eigenen Interessen verfolgen würden und dem Volk genauso wenig böten wie die Regierung Kiew.
Es ist aber nicht so, dass er den Soldaten aufmunternde Worte zusprechen würde. "Das sind doch Kinder", sagt er. Und in der Tat sieht keiner der schmalschultrigen Männer älter als zwanzig Jahre aus. Jura erinnert sich an eine Parade der bewaffneten Separatisten im Zentrum von Donezk, als dort auf sechs Lkw durchtrainierte Männer im Alter zwischen 35 und 40 von pro-russischen Demonstranten beklatscht wurden. Manche gaben unumwunden zu, dass sie als Freiwillige aus Tschetschenien gekommen wären. Und ja, dort hätten sie viel Kampferfahrung gesammelt.
In Mariupol kommt Jura schließlich an einem Ort vorbei, an dem die Aufständischen bereits einmal ihre Kampfkraft bewiesen hatten und einen Angriff der Armee abwehrten. Das Haus ist heute großteils ausgebrannt. Im Zentrum halten die Separatisten aber noch ein weiteres Gebäude besetzt, das sie großflächig mit Barrikaden abgeriegelt haben. Jura sieht nur die hoch gestapelten Sandsäcke und ein paar Köpfe in Camouflage-Mützen, als er an ihnen vorbei hinunter zum Strand fährt. Er hat noch ein wenig Zeit und trifft einen Freund, der am Steg fischt. "Weißt du", sagt dieser zu ihm, als sie, in der prallen Sonne stehend auf den unüblich leeren Strand blicken, "seit die Rebellen hier einfach in Geschäfte laufen und sich nehmen, was ihnen passt, machen sie sich immer unbeliebter."
Dass derartige Vorgänge keine Einzelfälle sind, bezeugt auch ein Brief des Separatistenführers Igor Strelkow, des "Verteidigungsministers" der Volksrepublik, den ihm sein Freund am Handy zeigt. Darin verfügt Strelkow den "Tod durch Erschießen" über zwei Kämpfer aus den eigenen Reihen - für "Plünderungen, bewaffneten Raub und Verlassen der Kampfpositionen". Jura liest das Wort "Feldgericht" und erinnert sich an die Ausrufung des Kriegszustands. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und verlässt seinen Freund, in Gedanken versunken.
Getötete Zivilisten
Als Jura abends nach Donezk zurückkommt, werden ihm seine beiden Söhne erzählen, wie schwer die Kämpfe in der Stadt rund um den Flughafen waren. Dass zwei Zivilisten am Bahnhof im Kreuzfeuer starben, weitere drei bei Kämpfen im nördlichen Slawjansk und dass die ukrainische Armee ihren Anti-Terror-Einsatz auch auf Mariupol ausgeweitet habe und dort angriff, wo Jura wenige Stunden zuvor noch unbehelligt vorbeifuhr. Und er selbst hört noch bis tief in die Nacht Schusswechsel und Detonationen.
Als er am nächsten Tag aufwacht und in der Früh im Internet ein Bild mit gestapelten Leichen von Separatisten sieht und liest, dass mindestens 45 von ihnen getötet wurden, wird ihm klar, dass die Anti-Terror-Operation nun auch bei ihm in der Stadt angekommen ist. Er wird nicht in die Arbeit gehen, es heißt, die Kämpfer seien nun über die Stadt verstreut. Aber zum ersten Mal hofft er, dass es der ukrainischen Armee gelingt, das in den letzten Tagen errungene Terrain zu halten und rasch neues zu erobern. Überzeugt ist er nicht. Die Sorgenfalten bleiben.