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Verlorener Maßstab, oder: Deutsche Physik 1933-1945

Von Christa Karas

Wissen

"Als ich im englischen Radio einen sehr sachlichen Bericht der Engländer und Amerikaner über Belsen und Buchenwald hörte, fing ich laut an zu heulen und konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Und wenn Du die Menschen gesehen hättest, die aus den Lagern hierher kamen. Man sollte einen Mann wie Heisenberg und viele Millionen mit ihm zwingen, sich diese Lager und die gemarterten Menschen anzusehen. Sein Auftreten in Dänemark 1941 ist unvergesslich." - Lise Meitner im Juni 1945 in einem Brief an Otto Hahn, den der Physiker allerdings nicht erhielt und der nur als Kopie erhalten blieb.


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Die Rolle der Wissenschaft in Kriegszeiten, die Rolle der Forscher in den Zeiten des Krieges: Das Thema ist so aktuell wie eh und je und hätte des historischen Anlasses - die Veröffentlichung der Briefentwürfe von Niels Bohr an Werner Heisenberg über dessen Besuch 1941 in Kopenhagen - nicht bedurft. Aber wenn Carl Friedrich von Weizsäcker heute als einzig noch lebender Zeuge sagt, dass das Motiv dieses Besuches nur der - offensichtlich missverstandene - Wunsch nach einem weltweiten Verzicht auf die Atombombe gewesen sei (was Heisenberg stets behauptet, Bohr aber entschieden anders gesehen hatte), erhebt sich zumindest der Wunsch, jemand möge ihm da, bitteschön, widersprechen. Es ist so schwer zu glauben.

Wer wäre da wohl geeigneter als Lise Meitner, die sich zwar ebenso wie Bohr stets höflich-zurückhaltend gab, wenn es um persönliche Kritik an einem Fachkollegen ging, der aber die Wahrheit stets über alles ging? - Ruth Lewin Sime, Professorin für Chemie in Sacramento, hat die bisher umfassendste Biografie der Physikerin verfasst, die nun auch in deutscher Sprache vorliegt: "Lise Meitner - Ein Leben für die Physik" (Insel Verlag), beschreibt freilich weit mehr als nur das Leben dieser außergewöhnlichen Frau, die, 1878 in Wien geboren, als 60-Jährige vor den Nazi aus Berlin nach Stockholm flüchten musste.

Hardcore-Physik

Das Buch ist vielmehr Hardcore-Stoff für Physikbegeisterte, da es Schritt für Schritt detailliert Meitners experimentelle Arbeiten, ihre Entwicklungen, Rückschläge und Fortschritte bis zur Entdeckung der Kernspaltung beschreibt, für die der in Berlin verbliebene Otto Hahn dann 1946 den Nobelpreis erhielt. Insofern sei also darauf verwiesen, dass sich der Leser über weite Strecken wie beim Anhören des "Elemente-Liedes" von Tom Lehrer fühlt, wenn auch nicht so amüsiert.

Allerdings hat Ruth Lewin Sime auch zahlreiche Briefe und persönliche Dokumente Meitners sowie bisher unveröffentlichte Dokumente aus verschiedenen Archiven gesichtet und gesammelt, wodurch ein ein luzides Porträt der Wissenschafterin entstanden ist, deren Schicksal untrennbar mit den politischen Ereignissen jener Zeit verknüpft ist.

Insofern ist vor allem jener Brief Meitners aus dem Jahr 1945 berührend, in dem sie einerseits "von Herzen" ihrer Hoffnung Ausdruck verleiht, dass ihre Freunde Otto Hahn, Max von Laue sowie Max und Marga Planck zum Kriegsende "nicht zu leiden hatten", andererseits aber auch festhält: "Das ist ja das Unglück von Deutschland, dass Ihr alle den Maßstab für Recht und Fairness verloren hattet." Und: "Ihr habt auch alle für Nazi-Deutschland gearbeitet und habt auch nie nur einen passiven Widerstand zu machen versucht. Gewiß, um Euer Gewissen zu los zu kaufen, habt Ihr hier und da einem bedrängten Menschen geholfen, aber Millionen unschuldiger Menschen hinmorden lassen, und keinerlei Protest wurde laut."

Dennoch bietet Meitner ihre Hilfe an und empfiehlt eine offene Erklärung, "daß Ihr Euch bewußt seid, durch Eure Passivität eine Mitverantwortung für das Geschehene auf Euch genommen zu haben, und daß ihr das Bedürfnis habt, soweit das Geschehene überhaupt gut gemacht werden kann, dabei mitzuwirken". Und das, obwohl sie sich zuletzt im selben Brief an die Zeit vor ihrer Flucht erinnert, als sie Hahn oft sagte: "Solange nur wir (die Juden, Anm.) die schlaflosen Nächte haben und nicht Ihr, solange wird es in Deutschland nicht besser werden. Aber Ihr hattet keine schlaflosen Nächte, Ihr habt nicht sehen wollen, es war zu unbequem." - So viel zu Heisenberg, von Weizsäcker und den anderen. Also: Unbedingt zur Lektüre empfohlen!