Die aktuelle Publikation zum Österreichischen Bundesverfassungsrecht ist eine dogmatische Analyse mit nostalgischem Hauch.
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Im Vorjahr hat die österreichische Bundesverfassung ihr 100-jähriges Jubiläum gefeiert. In unregelmäßigen zeitlichen Abständen wird das Bundesverfassungsrecht von fünf Herausgebern, unter anderen Michael Holoubek und Christoph Bezemek, im Verlag Österreich in einer Loseblattsammlung mit einer Reihe weiterer Autoren sukzessive publiziert, und ich rezensiere die 16. Lieferung. Es handelt sich um eine dogmatische Analyse mit nostalgischem Hauch (siehe lex Starzynski). Der Kommentar ist jedenfalls gelebte und erlebte Verfassung, weil die aktuellen Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) erläutert werden.
Dazu folgende "Kostproben": Gemäß Art.6 B-VG (Bundes-Verfassungsgesetz) ist der Hauptwohnsitz einer Person dort begründet, "wo sie sich [. . .] niedergelassen hat [. . .]; trifft diese sachliche Voraussetzung bei einer Gesamtbetrachtung der [. . .] Lebensbeziehungen einer Person auf mehrere Wohnsitze zu, so hat sie jenen als Hauptwohnsitz zu bezeichnen, zu dem sie das überwiegende Naheverhältnis hat". Diese Formulierung gibt jedem Bürger die Möglichkeit, zu verhindern, dass ihm etwas zugestellt werden kann. Er kann einen seiner Wohnsitze als Hauptwohnsitz bezeichnen, von dem er annehmen kann, dass bei einer allfälligen Zustellung einer Gerichtssache zum Nachteil des Antragstellers und zum Vorteil des genannten Bürgers ein Prozess zumindest verzögert wird.
Am Rande der Legalität
Art. 7 B-VG normiert, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Völkerrechtlicher Hintergrund ist der UN-Behindertenrechtskonvention. Der Kommentator rügt die Korrektur, die in der deutschen Übersetzung vorgenommen wurde, und auch ich finde, dass die Methodik, die diese Kundmachung als Druckfehlerberichtigung erklärt, sich am Rande der Legalität bewegt. Der unionsrechtliche Hintergrund ist die Europäische Grundrechtscharta; deren Art. 1 schützt die Menschenwürde, wobei bei Abwägung der Gleich- oder Ungleichbehandlung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung impliziert ist. Die Norm gilt auch für Personen, die sich für Behinderte engagieren (Assoziationsdiskriminierung).
Nach Art. 7 Abs.4 B-VG ist die Meinungsfreiheit durch die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit eingeschränkt (Art. 20 Abs. 3 B-VG). Ein besonderes Spannungsverhältnis besteht seit jeher im Bereich des Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung für öffentlich Bedienstete durch die Pflicht zur Wahrung der Amtsverschwiegenheit, insbesondere auch durch § 43 BDG (Beamten-Dienstrechtsgesetz) im Dienstrecht. Eine denkunmögliche Anwendung der Dienstpflichten - und daher eine Verletzung im Grundrecht auf Meinungsfreiheit - nahm der VfGH an, wenn private Äußerungen disziplinär geahndet wurden, obwohl sie keinesfalls über den Kreis der Gesprächspartner hinausgehen. Im Übrigen steht jedem Beamten schon nach Art 10 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) - ebenfalls im Verfassungsrang - die freie Meinungsäußerung zu, die Grenze des Sagbaren wird nur bei Verletzung von Amtsgeheimnissen im Sinne des § 310 StGB überschritten.
Ärzte und die Meinungsfreiheit
Die Judikatur lässt eine scharfe, aber sachlich formulierte Kritik durchaus zu, weil sie dem öffentlichen Interesse dienen kann, und daher nicht disziplinär sei. Herangezogen wird vom Verwaltungsgerichtshof als Begründung für den Schutz der Meinungsfreiheit, dass die Äußerung ein notwendiges Mittel zur Optimierung der Verwaltung darstellt.
In Corona-Zeiten besonders bemerkenswert: Der VfGH hat bei Ärzten eine Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK auch für Nachrichten oder Ideen gesehen, die "provozieren, schockieren oder stören"; im Sinne des Pluralismus, der Toleranz und der Großzügigkeit - meines Erachtens analog für alle.
Art. 10 B-VG regelt das Zivilrechtswesen im Kontext mit Bau-, Grundverkehrsrecht, Raumordnung und Wohnbauförderung. Die Kompetenzregelung, nach welcher die Gesetzgebungskompetenz der Länder gegenüber dem Bund gestärkt wurde, geht auf den Initiator Stanislaw Starzynski zurück. Das bekannteste Beispiel ist die Entschädigung für staatliche Eigentumseingriffe.
Mehrmals änderte der VfGH seine Meinung über die Erlassung von Vorschriften über die Rechtsstellung von Ausländern in Bezug auf den Erwerb von Liegenschaften im Inland. Deshalb wurde diese Regelung aus dem Begriff Zivilrechtswesen herausgenommen und an die Gesetzgebungs- und Vollziehungskompetenz nach Art. 15 Abs. 1 B-VG übertragen. Eine letztmalige Änderung der Kompetenzlage erfolgte 1992, um die Erweiterung der Grundverkehrskompetenz zu ermöglichen, also effektive Maßnahmen gegen die spekulative Baulandhortung zu setzten; meines Erachtens blieb diese Regelung völlig ineffizient.
Als Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist Österreich verpflichtet, die Freiheit des Liegenschaftsverkehrs zu gewährleisten, wobei bereits die gemeinsame Erklärung zu Zweitwohnungen im EU-Vertrag hinweist.
Art. 30a B-VG regelt den Schutz und die Geheimhaltung von Informationen im Bereich des National- und des Bundesrats. Durch die Schaffung von U-Ausschüssen stellte sich heraus, dass sich einerseits die Kontrolle der Geheimhaltung als problematisch darstellt, weil diese immer das Potenzial hat, als staatliches Machtinstrument eingesetzt zu werden, mit dem auch die gegenseitige Kontrolle der Staatsgewalten und die rechtliche Verantwortung unterlaufen werden können.
Moralische Komponente
Andererseits: Nach herrschender Meinung unterliegt die Bundesregierung aufgrund von Art. 20 Abs. 3 B-VG gegenüber dem Nationalrat der Amtsverschwiegenheit; wobei dies mit der Ratio des Interpellationsrechts gemäß Art. 52 B-VG nicht immer vereinbar ist. Gegenüber der Volksanwaltschaft besteht auch keine Amtsverschwiegenheit (Art. 148b Abs. 2 B-VG).
Zu Art. 146 B-VG: Zur aktuellen Problematik denke ich, dass eine Rechtsordnung, deren Wirksamkeit allein durch Zwangsausübung hergestellt werden kann, nicht lange sozial aktiv bleibt. Ein wesentliches Element der Effektivität liegt auch in der moralischen Komponente, rechtmäßig handeln zu wollen, und nicht aus Furcht vor Sanktionen. Dieser Wille muss daher bei den höchsten Staatsorganen gegeben sein. Ich erinnere an Hans Kelsen und den Dualismus von "Sollen" und "Sein", ein ewiges Spannungsverhältnis. Die Akzeptanz von Erkenntnissen des VfGH ist und müsste Allgemeingut sein, allerdings ist mit jenen, die sich an den Rand des Rechtsstaates begeben, die demokratisch-politische Auseinandersetzung zu führen.
Wer sich über verfestigte Rechtsauffassungen der Höchstgerichte hinwegsetzt, ohne neue essenzielle rechtliche Argumente ins Treffen führen zu können, handelt rechtlich unvertretbar.
Art. 59a B-VG regelt die Bewerbungsmöglichkeit eines öffentlich Bediensteten für ein Mandat im Nationalrat, allerdings ist eine echte Lücke festzustellen, weil Meinungsverschiedenheiten zwischen Bediensteten und Dienstbehörde nicht geregelt sind. In der Praxis gibt es seit jeher eine Diskussion um Beamtenprivilegien in Gestalt "arbeitsloser Bezüge"; der Forderung nach Absicherung der ungeschmälerten Betätigung öffentlich Bediensteter als gewählte Mandatare steht die Forderung nach Ausschluss ungerechtfertigter Privilegien für diese gegenüber. Vorbildlich geregelt § 79 RStDG (Richter- und Staatsanwaltschaftsdienstgesetz), der vorsieht, dass Richter, die ein politisches Amt oder Mandat innehaben, für die Funktionsdauer unter Entfall der Bezüge außer Dienst zu stellen sind.
EuGH als gesetzlicher Richter
Art. 83 Abs. 2 B-VG stipuliert, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf; auch der Europäische Gerichtshof gilt als gesetzlicher Richter. Nach Art. 6 und 8 EMRK wird zwischen dem Recht auf Transparenz und dem Vertraulichkeitsschutz im gerichtlichen Verfahren abgewogen. Auch eine Vereinbarung über die Unklagbarkeit wird als zulässig angesehen, während der Oberste Gerichtshof den gänzlichen Ausschluss des Rechtswegs als eine Verletzung des Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter qualifiziert.
Bisher ungelöst ist die Frage, ob der Bundespräsident eine Person, die der Kanzler für ein Resort vorschlägt (Art. 70 Abs. 1 und 2 B-VG), ablehnen darf? Eine Rechtsansicht ist jene von Martin Kind, dass der Bundespräsident im Hinblick auf das demokratische und rechtsstaatliche Prinzip dies nicht darf.
Ich schließe mit dem Appell, in Mutation eines populären Dictums spektakulär die Souveränität unseres Parlaments zu bewahren.