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Dem Schattenkreislauf des Essens auf der Spur. Wo die Lebensmittel hingehen, wenn die Wiener Tafel sie vor dem Müll rettet.
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Lokale Weltverbesserer sitzen nicht in Glaspalästen. Sie sind nicht reich an Kapital, dafür an Ideen, Motivation und Tatkraft. Zur Zentrale der Wiener Tafel gelangt man über den Parkplatz eines Autohändlers an der Simmeringer Hauptstraße. Unter der Tangentenbrücke führt ein unscheinbarer Eingang in den riesigen Lagerraum des rückwärtigen Gebäudes. Leere Kisten und Gemüsesteigen türmen sich an der Wand des Raums auf. Sie warten auf ihren Einsatz, wenn die freiwilligen Mitarbeiter der Wiener Tafel ihre Touren beginnen, um Lebensmittel-Spenden von Industrie, Handel und Landwirtschaft abzuholen und an soziale Einrichtungen zu verteilen.
Die beiden Pensionisten Karin Cremer und Augustin Schantl engagieren sich ehrenamtlich für die Wiener Tafel. Heute haben sie insgesamt vierzehn Adressen anzufahren. Bei vier Firmen werden Nahrungsmittel abgeholt, die sonst auf dem Müll landen würden. Stattdessen bringen die beiden Freiwilligen das Essen unter anderem zu Flüchtlingsherbergen, Obdachloseneinrichtungen oder Frauenhäusern, die es an ihre Klienten weitergeben.
"Es ist erstaunlich, wie viele Lebensmittel weggeschmissen werden", erzählt Karin auf dem Weg zum ersten Spenderunternehmen, einer Bäckerei in Simmering. Allein in Wien wird jedes Jahr etwa ein Viertel der erzeugten Lebensmittel vernichtet – Überproduktion, Logistikfehler, Fehletikettierung, optische Mängel und kleine Verpackungsschäden führen dazu, dass einwandfreie Lebensmittel weggeworfen werden.
Sieben große Säcke Brot können Karin und Augustin an diesem Montag von der Bäckerei mitnehmen, vor allem Fladenbrot. Die Fahrt geht weiter nach Wiener Neudorf und Vösendorf, dort werden an drei Adressen Lebensmittel abgeholt. Da kommen zehn Kisten mit jeweils sechs Ein-Kilo-Kübeln voller Kartoffelsalat, sechs Schachteln à sechs Beuteln abgepackter Salate, einige Packungen Fleischlaibchen und ganze Hendln, aber auch vegetarische Würstel, einige Striezeln und Dosen mit Bambus-Kaffee auf die Ladefläche des Kühlautos. In diesem Fall war es ein Bestellfehler, erzählt der Mitarbeiter einer der Firmen. Dass die Lebensmittel von der Wiener Tafel eingesammelt werden, hält er für eine gute Idee: "Sonst werden sie ja weggeschmissen."
Für Sabina Großkopf, Leiterin der Molkereiabteilung bei Metro Vösendorf, ist der soziale Gedanke am wichtigsten. "Außerdem bekommt man eine andere Wertschätzung gegenüber der Ware", ergänzt sie. Hier werden Milch und Milchprodukte, wie Vanille- und Schokopuddings, aber auch einige Packungen Nordseekrabben und Suppengrün eingepackt, alles genießbare Lebensmittel, die nur knapp vor dem Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums stehen.
Der Plus-Macher
Rund 180 Warenspenderunternehmen kooperieren derzeit mit der Wiener Tafel. Am Anfang war es mühsam, die Firmen zur Zusammenarbeit zu bewegen, erinnert sich Obmann Martin Haiderer, der die Tafel Ende der 90er Jahre gemeinsam mit Studienkollegen gegründet hat. "Damals war die Einstellung, dass NGOs als Bittsteller zu den Unternehmen kommen. Da mussten wir Überzeugungsarbeit leisten, um Partner auf Augenhöhe zu sein", erzählt er von den Startschwierigkeiten. Immerhin ersparen sich die Spender Lagerhaltungs- und Entsorgungskosten und profitieren von einem positiven Image, das sie sich durch die Unterstützung der Wiener Tafel aufbauen.
Seit 1999 versucht die Wiener Tafel, einen Ausgleich zwischen Überfluss und Not zu schaffen. Am Beginn stand eine einfache Überlegung: So wie in der Mathematik aus Minus und Minus ein Plus wird, so wollte Haiderer zwei gesellschaftliche Missstände in etwas Positives verwandeln. Damals arbeitete er als Student der Sozialarbeit beim Bahnhofssozialdienst mit, einer Erst-anlaufstelle für Menschen in Notsituationen. Dort hat er Menschen gesehen, die in einem der reichsten Länder der Welt nicht wussten, wie sie satt werden sollten.
Während auf der einen Seite Menschen hungern, wurden auf der anderen Seite viele Lebensmittel weggeworfen, waren ein Drittel der Biotonnen bei den Supermärkten voll mit genusstauglichen Lebensmitteln, wie Haiderer sagt. Und das, "obwohl doch im Sinne der Nachhaltigkeit und des ökologischen Gleichgewichts darauf geachtet werden sollte, dass wertvolle Ressourcen nicht verschwendet werden." Allein von Privathaushalten landen jährlich etwa 96.000 Tonnen genießbarer Lebensmittel im Restmüll – mit dieser Menge könnte die gesamte Bevölkerung Innsbrucks ernährt werden.
Zwischen dem Bedarf und dem Überfluss fehlte eine Brücke, über die das Essen zu den notleidenden Menschen kommen konnte. Martin Haiderer machte sich auf die Suche nach einem Weg, der sowohl die Umwelt schont als auch den Armutsbetroffenen hilft und nicht zuletzt der Wirtschaft nutzt. In Deutschland wurde er fündig. Dort gibt es bereits seit 1993 Tafelorganisationen, die wichtige Unterstützungsleistungen für soziale Einrichtungen bieten. Gemeinsam mit Kollegen von der Sozialakademie sah er sich die deutschen Tafelmodelle an, machte eine Bedarfserhebung und adaptierte die Idee für Wien.
Von Anfang an war es Haiderer wichtig, dass sehr hohe qualitative, aber auch ethische Standards zur Anwendung kamen. So wurden nie Waren angenommen, deren Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten war: "Wir wollen nicht vermitteln, dass Menschen, die in unserer Gesellschaft schon oft das Etikett der zweiten Klasse tragen, weil ihnen die soziale Teilhabe verwehrt wird, dann auch noch Produkte zweiter Klasse bekommen, nämlich das, was für den Rest der Gesellschaft als nicht mehr gut genug erscheint."
Weil es der Wiener Tafel außerdem wichtig ist, dass die betroffenen Menschen aus der Armutsfalle wieder herauskommen, werden strenge Qualitätskriterien an die belieferten Sozialeinrichtungen angelegt. Diese müssen die Menschen auch beraten und unterstützen, damit sie wieder auf eigenen Beinen stehen. Das soll auch der Kritik den Wind aus den Segeln nehmen, dass Tafel-Organisationen durch die Verteilung von Almosen zu einer Verfestigung der Situation beitragen.
Martin Haiderer betont, dass darüber hinaus "dieses zivilgesellschaftliche Engagement die staatlichen Sozialleistungen nicht ersetzen kann und die primäre Verpflichtung für eine minimale Existenzsicherung und für Armutsbekämpfung beim Staat liegt".
Was mit einem Startkapital von 5000 Schilling, dem Greißler ums Eck und drei Sozialeinrichtungen, die je nach Situation mit dem Privatauto angefahren wurden, am 9. 9. 1999 begann, ist inzwischen auf eine Organisation mit einigen Angestellten, 400 freiwilligen Mitarbeitern und fünf Lieferautos angewachsen.
2012 wurden 92.489 Kilometer zurückgelegt, um 462.366 Kilogramm Lebensmittel und auch Hygieneprodukte vor dem Müll zu retten und zu den 160.000 Armutsbetroffenen in 88 Sozialeinrichtungen zu bringen.
In die Mägen statt in den Mist

Eine dieser Einrichtungen ist die sogenannte Zweite Gruft in der Hernalser Lacknergasse. Während Karin Cremer und Augustin Schantl an diesem Tag noch Nahrungsmittelspenden von Unternehmen einsammeln, gibt es dort bereits das Mittagessen.
Rund 70 Menschen sitzen an den Tischen im Souterrain des Hauses. Die Teller vor ihnen sind noch leer, die Mitarbeiter aus der Küche stehen schon bereit, um die Suppe zu verteilen. Doch zuerst wird es ganz ruhig im Saal, ein kurzes Gebet wird gesprochen. Dann bekommen die Männer und Frauen das dreigängige Menü. Auf dem Speiseplan stehen heute "Mehrere Schätze aus der Küche". Da kann neben Suppe und Obst zum Hauptgang ein Gericht gewählt werden. Die Speisekarte ist nicht groß, heute gibt es Spaghetti oder Reisfleisch – und auf Wunsch Nachschlag. Weil manche nicht alles essen können, wird darauf geachtet, dass es beim zweiten Gericht auch eine Variante ohne Schweinefleisch gibt.
Die Menschen, die um 12 Uhr zum Mittagessen kommen, das jeden Tag ausgegeben wird, sind zumeist Obdachlose, zu einem großen Teil aus Osteuropa. Es sind aber auch Personen aus der Umgebung dabei, Pensionisten und andere Menschen, die prekär leben, die sich neben der Miete für die Wohnung das tägliche Brot und das Heizen kaum noch leisten können. Ernst Schierl, der als Betreuer im Tageszentrum arbeitet, schätzt ihren Anteil an den Klienten auf 10 bis 15 Prozent.
Kostenlos ist das Essen zwar auch hier nicht – es wird um eine Spende von 50 Cent gebeten. An diesem Tag sind viele Ein-Cent- und Zwei-Cent-Münzen in der Spendenbox, auch ein alter Schilling hat sich hineinverirrt. "Wenn einer einmal nichts hat, bekommt er dennoch zu essen", erklärt Günter Wimmer, der Leiter der Caritas-Einrichtung. Es kommt auch vor, dass die Klienten sehr wählerisch sind, erzählt Schierl. Woran das liegt, kann man oft nicht vorhersagen. "Oft ist es einfach so, dass es das gleiche oder ein ähnliches Essen am selben Tag oder am Abend davor bei einer anderen Essensausgabestelle gegeben hat." Letztendlich gibt es aber, was es gibt, auch wenn versucht wird, so weit es geht, Rücksicht zu nehmen.
Jeden Tag werden in der Zweiten Gruft rund 110 Portionen Mittagessen vorbereitet. Gleichzeitig wird auch schon das Abendessen, das später im Notquartier ausgegeben wird, gekocht und warm gehalten – das sind weitere 40 bis 50 Portionen.
Weil man nicht so genau weiß, welche Nahrungsmittel durch die Wiener Tafel zur Verfügung gestellt werden können, wird fürs Essen auch auf andere Ressourcen zurückgegriffen. Neben den Lieferungen der Tafel gibt es auch private Spenden und Essensspenden von Schulen in der Umgebung, die gleich verwendet werden müssen. "Ohne die Wiener Tafel käme das Essen schon zustande, aber es wäre geringer und nicht so nahrhaft", sagt Schierl. Und Wimmer ergänzt: "Die Wiener Tafel gehört zu den wichtigsten Ressourcen."
Die Essen-Umverteiler
Als das Auto der Wiener Tafel zur Zweiten Gruft kommt, ist das Mittagessen vorbei. Die Lebensmittel werden mit großer Freude entgegengenommen, müssen doch auch morgen wieder rund 150 Portionen Essen gekocht werden. Schon auf dem Weg zu den sozialen Organisationen macht sich Karin Gedanken, für welche Einrichtung welche gespendeten Lebensmittel passend sein könnten. Dabei greift sie auf ihre Erfahrungen zurück, die sie in den eineinhalb Jahren gesammelt hat, in denen sie ein bis zwei Mal in der Woche ehrenamtlich für die Wiener Tafel unterwegs ist. Die Milchprodukte und die Eier möchte sie für das Frauenhaus aufheben, den Kübel Liptauer und die zwei Halbkilo-Stangen Mozzarella wie auch die Krabben hat sie in Gedanken sofort für die Zweite Gruft beiseite gelegt. Dort wird eben für eine große Menge Menschen gekocht, während die meisten anderen Einrichtungen die Lebensmittel nach Bedarf direkt an ihre Klienten ausgeben – diese könnten daher mit so großen Mengen nichts anfangen. Immerhin wäre es das Gegenteil des angestrebten Ziels, wenn die Lebensmittel dann schlecht und erst recht weggeworfen würden.
Die Zweite Gruft war an diesem Tag die siebte Einrichtung, die Karin Cremer und Augustin Schantl beliefert haben. Drei weitere Adressen sind noch anzufahren, doch die Lebensmittel im Kühlraum des Wagens sind schon sehr wenig geworden. Seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 sei zu beobachten, dass der Bedarf immer größer werde, erzählt Haiderer. So hätte sich die Zahl der Armutsbetroffenen, die mit Hilfe der Wiener Tafel versorgt werden, in den vergangenen fünf Jahren fast verdoppelt.
Dennoch ist dank der geschickten Einteilung von Karin auch für die letzte Einrichtung, ein Übergangswohnhaus, zumindest noch Brot im Auto. Nach sechs Stunden ist der Lieferwagen wieder leer, das Tagwerk geschafft. Auch wenn es manchmal anstrengend ist, ist es Karin wichtig, sich zu engagieren: "Es ist berührend zu sehen, was für eine Armut herrscht."
Nach der Tour wird das Auto wieder am Parkplatz unter der Tangentenbrücke abgestellt. Am nächsten Tag geht es wieder los. Erneut werden Lebensmittel vor dem Müll gerettet und Menschen vor der totalen Armut bewahrt. Umverteilen von dort, wo es zu viel gibt, dorthin, wo es Bedarf gibt. Lokale Weltverbesserer sitzen nicht in Glaspalästen, sie sind auf der Straße unterwegs, um den Menschen zu helfen, die es am dringendsten nötig haben.
Print-Artikel erschienen am 6. Dezember 2013 In: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 16-20
Wer die Wiener Tafel unterstützen will, …
… kann das auf verschiedene Arten tun: Spenden werden für die Aufrechterhaltung der Arbeit, die Anschaffung eines Hubstaplers oder die Schaffung von mehr Lagerraum zur Zwischenlagerung von haltbaren Lebensmitteln benötigt: Spendenkonto-Nummer 3100 530 3005, BLZ 20111 (Erste Bank). www.wienertafel.at
Außerdem läuft bis 31. Dezember die Winterhilfsaktion der Wiener Tafel, die "Suppe mit Sinn". Sozial engagierte Wirte widmen eine Suppe auf ihrer Speisekarte der Wiener Tafel und führen für jede verkaufte Portion einen Euro Spende an diese ab. Mit einem Euro kann die Wiener Tafel bis zu zehn Armutsbetroffene versorgen. Teilnehmende Lokale unter www.suppemitsinn.at
Für alle, die sich engagieren wollen, finden regelmäßig Info-Abende statt. Der nächste ist am Dienstag, 11. Februar 2014, bei der Wiener Tafel, 1110 Wien, Simmeringer Hauptstraße 2–4. Anfragen und Anmeldung: Frau Petzl 01/236 56 87 – 005