Der Philosoph Friedrich Jodl, der wichtige Jahre seines Gelehrtenlebens in Wien verbrachte, war nach eigener Auskunft "im Denken Realist, im Handeln Idealist": Erinnerung an einen weitgehend vergessenen Denker.
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Friedrich Jodl, geboren 1849, gestorben 1914, Ordinarius für Philosophie in Wien, war zu seiner Zeit eine bedeutende Persönlichkeit. Als streitbarer Kämpfer gegen den Klerikalismus und als unermüdlicher Befürworter einer rein diesseitigen Ethik war Jodl nicht nur im ganzen deutschen, sondern auch im romanischen und angelsächsischen Sprachraum bekannt. Als erklärter Antimetaphysiker gehörte er zu den Wegbereitern des Wiener Kreises.
In erkenntnistheoretischer Hinsicht war Jodl Empirist, mit Blick auf ontologische Fragestellungen Monist, als Verfasser eines Lehrbuches der Psychologie (1897) Anhänger der experimentellen Assoziationspsychologie Wilhelm Wundts; als Kulturhistoriker war er ein Wegbereiter der damals aufsehenerregenden sozialpsychologischen Geschichtsbetrachtung Karl Lamprechts, als Ethiker Vertreter der empirischen Lehre von der Charakterbildung in der Tradition John Stuart Mills, und als Ästhetiker Verfechter einer historisch-vergleichenden Lehre von der Geschmacksbildung.
München, Prag, Wien
Bereits in seiner Studienzeit kam der gebürtige Münchner Jodl über die Vermittlung seines dem Altkatholizismus nahestehenden Lehrers Johannes Huber mit kirchenpolitischen Themen in Berührung, insbesondere mit der seit 1870 kräftig anschwellenden Auseinandersetzung zwischen Papstkirche und Wissenschaft. Als Jodl sich 1878 öffentlich kritisch zu religiösen Fragen äußerte, schüttelten seine Freunde den Kopf ob seines Mutes, sich derart antiklerikal zu äußern, obwohl er noch keine Anstellung hatte. Den bayrischen Liberalismus hielt Jodl für "ängstlich" und "haltlos" angesichts einer starken klerikalen Opposition; der letzte Rest an "Idealismus" und "Fortschrittsgedanken" ströme zur Sozialdemokratie. Diese Gelähmtheit des politischen Liberalismus hat Jodl nicht nur mit Blick auf bayrische Verhältnisse zeitlebens beklagt.
Jodls ursprüngliches Interesse galt vorwiegend der Geschichte, und es waren genuin historische Fragestellungen, welche ihn, den späteren Philosophen und Ethiker, immer wieder beschäftigen sollten. Am 11. August 1882 heiratete er Margarethe, geb. Förster, in Tölz. In dieser Zeit hielt er sich mit zahlreichen und ausgedehnten Vortragsreisen über Wasser. Auch in seinem eigenen Haus veranstaltete er einen Zyklus von philosophischen Vorträgen, was er selbst wie auch sein Publikum sehr genoss, denn er war aufgrund seines "Bedürfnisses nach rhythmischer Sprachschönheit" ein guter Redner, und es lag eine gewisse Leichtigkeit in seinen Vorträgen.
Nachdem ihm zwei in Aussicht gestellte Professuren in Würzburg aufgrund seiner religionskritischen Einstellung verwehrt wurden, ereilte Jodl 1885 endlich der Ruf an die Deutsche Universität nach Prag. 1892 wurde er - noch im Jahr ihrer Gründung - in den Vorstand der in Berlin ansässigen "Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur" (DGEK) gewählt. Er war davon überzeugt, dass die liberalen Kräfte dieser Gesellschaft dazu geeignet wären, den klerikalen Kräften die Stirn zu bieten und den Menschen auf dem Weg der Bildung allgemeingültige ethische Werte näher zu bringen, die ob ihrer Universalität keiner religiösen oder parteipolitischen Fundierung bedürfen.
Allerdings wurden die sozialistischen Tendenzen in der DGEK zunehmend dominant, sodass sich Jodl gezwungen sah, aus der Bewegung auszutreten.
Etwa zur selben Zeit machte er sich Hoffnungen, als Nachfolger des sowohl bei der römischen Kurie als auch in der Wiener Ministerialbürokratie in Ungnade gefallenen Priesterphilosophen Franz Brentano in Wien Fuß fassen zu können:
"Mir hat man dieses Frühjahr wieder einmal eine schöne Wurst hingehalten - in Form eines Vorschlages der Wiener philosophischen Fakultät (. . . ). Aber ebenso schleunig ist sie auch wieder hinter Glas gelegt worden, denn im österreichischen Unterrichtsministerium haben jetzt die polnischen Bischöfe das große Wort . . . Nach dieser letzten Erfahrung glaube ich nicht, dass ich noch einmal wieder von hier erlöst werde und habe mir ein Familiengrab auf dem Olan (der Friedhof in Prag, Anm.) und eine tschechische Grammatik gekauft", schrieb er an einen seiner Freunde.
Als die Wahl in der Nachfolgerfrage schließlich auf Ernst Mach fiel, war Jodl in mehrfacher Hinsicht irritiert: Zum einen wäre er selbst liebend gerne der nationalistisch aufgeheizten Atmosphäre in Prag entkommen, zum anderen verlor er durch Machs Abgang nach Wien einen äußerst geschätzten Kollegen, der als Physiker auf den begehrten philosophischen Lehrstuhl berufen wurde.
Entgegen seinen Erwartungen wurde Jodl zwei Jahre später zum Nachfolger des Ästhetikers Robert Zimmermann ernannt und kam so 1896 doch noch nach Wien. Möglicherweise spielte dabei seine Entscheidung, aus dem Vorstand der DGEK auszutreten, eine nicht unerhebliche Rolle.
Streit mit Boltzmann
Legendären Ruf erwarb er sich in Wien durch diverse Auseinandersetzungen mit dem streitbaren Ludwig Boltzmann in der "Philosophischen Gesellschaft", deren Vorsitz Jodl über Jahre hinweg innehatte. Für das Studienjahr 1906/07 wurde er zum Dekan bestellt, 1910 erfolgte die Ernennung zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften, was ihn mit großer Genugtuung erfüllte. Er starb am 26. Jänner 1914 in Wien.
Über weite Strecken orientierte sich Jodl in seinem Schrifttum an Ludwig Feuerbach, dessen Werke er gemeinsam mit dem Skandinavier Wilhelm Bolin ab 1904 in zehn Bänden herausgab. Jodl war wie der von ihm als "Urgewaltiger" titulierte Feuerbach der Meinung, dass der Mensch letztlich selbst in der Lage sei, sich durch Bewusstseinsbildung der lebensfeindlichen Inhalte der Religion zu entledigen. Eine theoretische Erörterung des Phänomens der Religion war für Jodl von geringerem Interesse; diese habe, neben Feuerbach, bereits im 18. Jahrhundert der französische Aufklärer Paul Thiry d’Holbach in seiner These vom Priestertrug erschöpfend geliefert.
Kritik an der Kirche
In zahlreichen anlassbezogenen kleineren Schriften ging es Jodl hauptsächlich um die Abwehr der kultur- und fortschrittshemmenden klerikalen Mächte, welche insbesondere in der Zeit nach der Jahrhundertwende wieder erstarkten.
Jodl, der sich selbst nicht selten ironisch als "Prophet des toten Gottes" bezeichnete, vertrat die Auffassung einer strengen Trennung von Kirche und Wissenschaft. "Eine Wissenschaft, welcher von Religions wegen vorgeschrieben wird, welche Resultate sie finden, welche Grenzen sie nicht überschreiten darf - eine solche Wissenschaft gleicht dem armen Zeisig, der zwar nicht im Käfig sitzt, den aber ein Faden am Beine bei jedem Flugversuch daran erinnert, dass die ihm gegönnte Freiheit nur ein täuschender Schein ist", schrieb Jodl 1908. Ebenso unternahm er, wie auch der Soziologe Emile Durkheim in Frankreich, große Anstrengungen, den Religionsunterricht an Pflichtschulen durch einen überkonfessionellen Ethikunterricht zu ersetzen.
Auch in der Ethik vertrat Jodl eine empiristisch-antimetaphysische Position: Sollen impliziert nach Jodl, wie nach David Hume, Können; mit dem Sollen beschäftigt sich die normative Wissenschaft, mit dem Können die empirische Sittengeschichte. In seiner Auffassung von Ethik als einer Technik der Charakterbildung verband er utilitaristische mit eudämonistischen (= glücksuchenden, Anm.) Traditionssträngen. Die aus dem Zusammenspiel von Sozialkräften und individuellen Triebkräften resultierenden "sittlichen Sachverhalte" - darunter verstand Jodl Werturteile - sind in ihrer evolutionären Entwicklung Gegenstand der Sittengeschichte, die eine wissenschaftliche Sozialtechnik vorbereiten soll. Neben der Sittengeschichte sei als eine weitere unverzichtbare Hilfsdisziplin der Ethik die Psychologie anzusehen. Diese analysiert die individuellen Triebkräfte, die Jodl zufolge das "Fundament" der Ethik darstellen, und macht sie für erzieherische Zwecke nutzbar. In seinem 1918 posthum herausgegebenen Buch "Allgemeine Ethik" findet sein humanistisches Menschenbild und sein pädagogisches Bestreben, das die Entwicklung einer geistig völlig durchgebildeten Persönlichkeit zum Ziel hat, klaren Ausdruck.
Streit um Klimt
Im Jahre 1894 erhielt Gustav Klimt den Auftrag, für die Aula der neuen Universität drei Deckengemälde zu entwerfen, welche die drei Fakultäten darstellen sollten. Als Klimt 1900 als erstes Bild den Entwurf seiner Interpretation der Philosophie vorstellte, stieß er damit auf massiven Widerstand. Jodl verfasste als Sprecher der Professorenschaft eine Petition, in der das Kultusministerium aufgefordert wurde, das Werk abzulehnen.
Jodl konnte Klimts Gemälde wenig abgewinnen, da es ihm als ein inadäquater Versuch erschien, philosophische Sachverhalte in der Formensprache eines psychologisierenden Symbolismus auszudrücken. Damit sah er sich aber plötzlich auf einer Seite mit konservativ und religiös gesinnten Mitstreitern, von denen er sich in anderer Hinsicht sehr wohl abzugrenzen versuchte.
In einem Zeitungsartikel beteuerte Jodl, seine Kritik gehe nicht gegen die Darstellung von Nacktheit oder gegen freie Kunst, sondern gegen "hässliche Kunst". Mit diesem Argument hoffte er, die Diskussion von einer polemischen Basis auf eine ästhetische verlagern zu können. Im Zuge dieser Auseinandersetzung wurde Jodl 1901 zum Honorardozenten an der Technischen Hochschule ernannt, was als Triumph einer traditionsverhafteten Kunstanschauung angesehen wurde.
Jodl übernahm im Jahre 1898 den Vorsitz des "Wiener Volksbildungsvereines" sowie den des "Zentralverbandes der Deutsch-Österreichischen Volksbildungsvereine". Seinem eigenen Bekunden nach "im Denken Realist, im Handeln Idealist", verstand er sich als Anwalt der Ideale der Aufklärungsphilosophie, deren Einsichten er durch Erkenntnisse der empirischen Psychologie und die monistische Fortschrittskonzeption der Zeit um 1900 erweiterte.
Zudem ist Friedrich Jodl - bei aller Bereitschaft, seine Ideale notfalls gegen Widerstand mutig zu vertreten - als ein konsensorientierter Denker einzustufen. Treffend wurde bemerkt, dass Jodl im Jänner 1914 "gerade noch rechtzeitig" verstorben war, denn im Ersten Weltkrieg und in der Zeit danach waren konsensuelle Lösungen in Politik und Kultur kaum mehr gefragt.
Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum Jodl in Vergessenheit geriet.
Edith Lanser, geboren 1973, Studium der Soziologie und Musikwissenschaft in Graz. Arbeitet derzeit an einer Dissertation mit dem Titel "Religion, Moral und Kunst in der Weltanschauungsanalyse Friedrich Jodls".